Kimbra: Expansion, Kontraktion, Improvisation
Bei Loop 2016 nutzte Kimbra während einer Podiumsdiskussion die Metapher „kink my think“ (mein Denken knicken), um zu beschreiben, dass man sich manchmal von bestimmten Denkweisen verabschieden muss, um als Künstler:in zu wachsen und ausgetretene Pfade zu verlassen. Vier Jahre später hat sie 2020 – das Jahr des weltweiten Knicks – dafür genutzt, ihr Leben umzustellen und sich darauf zu konzentrieren, was sie am besten kann: improvisieren. „ln diesem Jahr hatte ich die Chance, all meine geschäftlichen Entscheidungen zu überdenken. Ich bin nicht mehr bei Warner Brothers, sondern arbeite jetzt als Designerin und künstlerische Leiterin in einem nur von Frauen geführten Team – eine ganz neue Erfahrung für mich. Und das erweitert meine kreative Vision um eine komplett neue, intuitive und poetische Art von Sprache. Das ist ein Knick: sich für das Verlassen der eigenen Komfortzone zu entscheiden. Das eigene Leben zusammenzupacken und umzuziehen – ein wiederkehrendes Thema für mich. Ich bin von Neuseeland über Australien und L.A. nach New York umgezogen, und jede Platte ist in einer anderen Stadt entstanden. „Ich glaube fest daran, dass dies der Schlüssel ist, um inspiriert zu bleiben. Also habe ich mein Studio umgestaltet, viel Equipment verkauft und alles ein bisschen minimaler gemacht, was eigentlich sehr befreiend war.“
Bei Loop 2016 setzte Kimbra auf eine komplett improvisierte Performance mit Musikern, mit denen sie noch nie gearbeitet hatte: Daedalus, Lars Horntveth und Jeremy Toy. Alles entstand direkt vor Ort – auch die improvisierten Worte einer Phantasiesprache. „Was ich bei improvisierter Musik wirklich interessant finde: Wie die Leute mit Selbstzweifeln ringen. Beim Jazz ist das genauso: Wenn jemand sein Solo beginnt und zuerst schüchtern ist, das dann aber über die Musik überwindet.“ In Bezug auf die Loop-Performance sagt Kimbra: „Es gab da einige fragwürdige Momente, bei der man die Angst auf der Bühne wirklich spüren konnte. Ich finde es wirklich interessant, sich das anzuschauen, weil ich meine eigenen Zweifel fühlen kann: 'Ob das hier wohl was taugt?' Aber es gab auch Momente, in denen alles passte und wir die Verbindung gefunden hatten.“
„Energiegeladene Momente, schwangeres Innehalten von Körpern in einem Raum. Warten, reagieren und denken: 'Wahnsinn – wir haben einen Groove am Start! Ach, schon wieder vorbei.' Man beobachtet die anderen und schaut, was sie machen. Ohne das geht das bei mir nicht – es ist wie Sex ohne Liebe, verstehst du? Wie Sex ohne irgendeine Verbindung. Vielleicht ist das ein krasser Vergleich, aber so erlebe ich das. Jedenfalls kann ich es gar nicht erwarten, wieder in einem Raum mit vielen Leuten zu sein. Das soll nicht heißen, dass man nicht auch zu Hause ein schönes Konzerterlebnis haben kann. Aber ganz egoistisch gesagt: Für mich als Performerin fehlt dann ein wichtiger Aspekt – nämlich das, worum es mir eigentlich geht.“
Bis auf Weiteres macht Kimbra Jam-Sessions und Livestreams für ihre Patreon-Community, aber auf einem anderen Energielevel: „Es wäre viel einfacher für mich, wenn da eine andere Person wäre, die ich anschauen kann. Ein:e Zuschauer:in würde genügen – ich würde richtig abliefern! Aber das Fehlen der Augen macht es einfach schwierig. Da geht es um Musik – und Quantenphysik. Die Materie und Live-Musik haben die Fähigkeit, sich unter Beobachtung zu verändern.“ Gilt das nicht auch für Kimbras Livestreams? „Ich arbeite dran. Ich liebe einfach das Performen, es ist großartig. Und ich habe noch keinen Weg gefunden, mit demselben Gefühl von der Bühne zu gehen: 'Wir haben etwas miteinander geteilt'. Beim Livestream bleibt mir nichts anderes übrig, als einfach daran zu glauben.”
Ein großer Teil von Kimbras künstlerischer Identität ist einfach dort zu Hause, wo sie sich über das Musikmachen und Improvisieren mit anderen Leuten verbinden kann: auf der Bühne. Genau wie andere Musiker:innen, die gerade nicht live spielen können und ihre Community nur über digitale Räume erreichen, hat sie sich wohl oder übel an die Situation angepasst. „Seit ich 15 bin, habe ich einmal pro Monat einen Live-Auftritt gehabt. Die Performance ist sowas wie meine Heimat – ich bin keine Musikerin, die hauptsächlich Platten aufnimmt und das Performen erst lernen musste. Mit meinen Loop-Pedalen habe ich in abgeranzten Pubs und hinten im Café vor drei Leuten gespielt. Platten aufnehmen – das kam erst später. Deswegen fühlt es sich für mich tatsächlich so an, als ob man mir die Sprache weggenommen hätte.“
„Das hat für mich die Wichtigkeit des Blickkontakts auf der Bühne noch deutlicher gemacht. Ich brauche das einfach, und ohne fällt mir das Performen schwer. Beim Livestreamen schaut man nur auf das Smartphone oder die Kamera. In New York hatte ich eine Show, die von einem sechsköpfigen Kamerateam gefilmt wurde. Ich musste in die Linse schauen und so tun, als ob es dort ein Publikum gäbe.“
Unser Interview mit Kimbra findet in ihrem neuen Domizil in Upstate New York statt, wo sie jetzt nach sechs Jahren in der City wohnt. Sie ist bestimmt nicht die einzige Künstlerin, bei der die Pandemie nicht nur einen Tapeten-, sondern auch einen Tempowechsel bewirkt hat. Vielleicht sogar eine wohltuende Verschnaufpause? „Ja, tatsächlich. Zu denken: 'Oh, darf ich innehalten? Und vielleicht Gartenarbeit machen?' Wir Künstler:innen haben ja eine seltsame Schuldmentalität. Man tut, was man kann, aber manchmal beschleicht einen auch das seltsame Gefühl, richtig hart arbeiten zu müssen, um dieses Leben zu legitimieren. New York City ist eine echte Tretmühle, und es hat sehr gutgetan, einfach zu leben... in meinem Körper zu sein und mich in meine Tätigkeit zu vertiefen, ohne etwas beweisen zu müssen. Denn das ist ja gerade gar nicht möglich.“
Während wir uns vielleicht alle mehr Zeit nehmen und versuchen, mit den neuen Realitäten des Alltags und der Musikindustrie klarzukommen, hält Kimbra einfach an dem fest, was sie kann. „In letzter Zeit habe ich viel an meinem vierten Album gearbeitet – meinem Hauptziel. Und es ist schon fast fertig.“ Das neue Album ist eine „glückliche Zusammenarbeit“ zwischen Kimbra und Ryan Lott von Son Lux – Musik, die beide Handschriften trägt. „Ich habe mit Ryan wirklich eine kreative Partnerschaft aufgebaut. Er lebt in Indianapolis, wir arbeiten über die Entfernung zusammen. Er sendet mir eine Idee und die zugehörigen Stems. Ich tauche ein, ändere ein paar Sachen oder schalte etwas aus. Oder ich füge etwas hinzu. Dann sende ich ihm die Stems zurück. Das Ganze hat eine schöne Dynamik. Manchmal sagt Ryan: 'Du hast genau das eingebaut, was noch gefehlt hat'. Oder: 'Das geht in die richtige Richtung, aber lass es mich mit anderen Sounds versuchen'. Und umgekehrt. Ich sende ihm eine unausgegorene Hi-Hat-Idee und sage ihm: 'Du kannst das bestimmt besser, aber das ist mir einfach gerade eingefallen.' Ein bisschen wie Gedankenlesen: Ich höre, was du vorhast – lass mich den Faden aufnehmen. Es ist einfach toll, wie gut das funktioniert – denn das ist nicht selbstverständlich. Manchmal arbeite ich mit Produzent:innen zusammen, die sich dann von mir vor den Kopf gestoßen fühlen. Wie ich Dinge rausnehme oder hinzufüge... das klappt nur mit einer bestimmten Art von Mensch. Ich kann mit meinen Ideen nämlich sehr schizophren sein. Bei der Dynamik zwischen Produzent:in und Künstler:in geht es schließlich nicht nur ums Musikmachen. Es geht darum, sich gegenseitig Freiheit zu lassen und zu wissen, wann man den Fokus auf etwas legen kann – ohne dabei die Ideen des:der Anderen herabzusetzen. Eine fragile Dynamik.“
Mit der Balance und dem Unterstützen und Fordern bei einer Kooperation hat Kimbra viel Erfahrung – nicht nur in Hinblick auf menschliche Mitspieler:innen: „Meine Beziehung zur Technologie ist ein Tanz. Ich kann komplett in die Technik eintauchen, fast schon auf eine zügellose und übertriebene Weise. Doch irgendwann stößt man an die Grenzen dieser Gadgets und erreicht einen Punkt, an dem sie nicht mehr so interessant sind. So tickt das menschliche Gehirn. Dann spiele und tanze ich auf die andere Seite und tauche bei einer Show nur mit einem Effektgerät auf – oder mit gar nichts, und nutze dann nur meine Stimme als Instrument.“
Kimbra hat eine besondere Art mit Worten umzugehen, wenn sie darüber spricht, wie sie mit ihren Tools und dem Publikum interagiert. Und sie hat ein Gespür dafür, wann man ihnen etwas gibt und wann man sie fordert. „Ich bezeichne das als Tanz, denn es ist für mich kein statischer, sondern ein fließender Vorgang. Ich nutze die Technologie, um Inspiration zu finden, und kehre immer wieder gerne zu ihr zurück, aber sie hat auch Grenzen. Nämlich dann, wenn ich es interessanter finde, mich ausschließlich mit der Technik des menschlichen Instruments zu beschäftigen. Mit diesen beiden Extremen habe ich schon immer gespielt. Ich freue mich über Extreme in der Musik – dass sie total digital klingen kann, mit seltsamen Octaver-Effekten auf der Stimme, aber auch unglaublich lebendig. Und wenn du als Künstler:in mit den beiden Endpunkten des Spektrums spielst, findest du allmählich heraus, welcher bei einer Mischform am interessantesten ist. Ich glaube, dass ich die Kunst der Intention oder strategischen Anwendung dieser Dinge gerade lerne. Das funktioniert nur dann, wenn du dich mit ihnen in die Tiefe stürzt und ihre Anwendung auf die Spitze treibst.
„Wenn ich an die aktuelle Situation denke, wird schnell klar, dass wir alle improvisieren müssen. Weil: Improvisation ist eine Art Denkweise. Das ist so eine starke Aussage über unser Navigieren durch schwierige Zeiten – und eine Metapher für Weiterentwicklung und Widerstandskraft.“
Hier können Sie sich Kimbras Live-Improvisation bei Loop 2016 in voller Länge anschauen:
Text und Interview: Erin Barra