Justus West: Kreatives Wachsen
„Begabung in der Musik ist für mich wie X-Men gucken“, meint Justus West, wenn er über die musikalischen Superkräfte der Leute spricht, die für ihn Genies sind. „Man kann das eigentlich bis zu dem Punkt zurückverfolgen, an dem sie ihre Macht entdecken, das ist immer ein traumatischer Moment in ihrem Leben. Sie lösen aus Versehen ein Riesenfeuer aus, zünden die Schule an oder sowas Durchgeknalltes. Für mich funktioniert Musik genau so. Oft weiß man ja, wenn man eine musikalische Begabung hat, erkennt aber solange nicht den vollen Umfang, bis etwas passiert."
Die Metapher kommt nicht von ungefähr. Mit 16 Jahren hatte Justus West eine Nahtoderfahrung, als er von einer Braunen Spinne gebissen wurde, er schwebte einen Monat lang auf der Intensivstation in Lebensgefahr. Nicht einmal ein Jahr später meldete er sich beim Wettbewerb Guitar Center OnStage mit Vince Gill an und gewann. Wie man sich vorstellen kann, stand er als nächstes prompt mit Vince Gill auf der Bühne und zog auf dessen Empfehlung nach Nashville um.
Was dann kam, war ein Strudel aus Chancen und Gigs. Mit seinen 21 Jahren hat Justus West für so große Namen wie Mac Miller, Ariana Grande, Roddy Rich, Future, DJ Mustard, Jazmine Sullivan, Chris „Daddy“ Dave, Herbie Hancock, Robert Glasper, Timbaland, Ty Dolla $ign, John Mayer und andere geschrieben, produziert oder war mit ihnen auf Tour. Er war das jüngste Mitglied in der Runde bei 1500 or Nothin’, wurde für einen Grammy nominiert und hat neben Nashville auch in Atlanta und L.A. gewohnt. Vor kurzem hat er geheiratet und ist zurück in seine Heimatstadt Kansas City in Missouri gezogen, wo er schwer damit beschäftigt ist, die Grenzen seiner Fähigkeiten zu verschieben.
„Als es mit den großen Gigs losging, war ich einfach still und habe zugehört. Wenn ich ein Intro oder Outro nicht konnte, habe ich so getan, als hätte ich ein technisches Problem mit meiner Pedalleiste, habe dann zugehört, als die anderen es gespielt haben und mein Bestes gegeben, um mitzuziehen. Meine ersten Tage auf Tour und bei Shows bestanden zum großen Teil aus Herumraten, soviel ist sicher. Den Rest habe ich einfach meiner Persönlichkeit überlassen.“
West stellt fest, dass solche Erfahrungen, die ihn in so jungem Alter im Zeitraffer unabhängig machten, ihm auch dabei halfen, sein wahres Potenzial zu entfalten. „Als ich damals aus Kansas City weggegangen bin, habe ich noch nicht mal ernsthaft geschrieben. Ich habe nicht so wirklich viele Beats gemacht oder Songs geschrieben... Ich wollte einfach nur Gitarrist sein. Ich war couchsurfen und solche Sachen. Ich hatte viel Zeit übrig, also habe ich meine Kreativität wachsen lassen.“
Nur wenige Jahre später hat West „tausende von Audiodateien“ angesammelt, darunter Beats, Songs und Kompositionen, die er aus Spaß zu YouTube-Videos geschrieben hat. Daneben hat er sich selbst 3D-Rendering und CSS beigebracht und sich mehr in Richtung bildende Kunst bewegt. „Mir ist aufgefallen, je mehr ich ausprobiere, desto mehr kann ich gut. Das heißt, das alles steckt irgendwo in mir drin, ich muss es nur wachsen lassen. Ich stecke so lange die Nase hinein, bis ich auf eine neue Fährte stoße.“
Wenn jeder kreative Appetit gestillt werden soll, ist Zeit natürlich ein limitierender Faktor. Seine Karriere ist gerade sehr dynamisch und es geht ständig voran, dabei gibt es noch so viele andere Disziplinen, die er ausprobieren will. Die größte Herausforderung besteht für West darin, seine Interessen unter einen Hut zu kriegen. „Es wird mir immer so vorkommen, als ob etwas fehlt. Das ist wie ein ständiges Jucken und egal, wie oft ich kratze, es kommt immer ein neues Jucken dazu. Ich habe versucht, mir einen Tagesplan zu machen, mit Animation, Zeichnen, Üben, Schreiben. Ich schaffe 15 Stunden am Tag, also sollte ich in der Lage sein, jeden Tag von allem ein bisschen zu tun.“
„Die Leute setzen Arbeitsmoral mit ihrem Selbstwertgefühl gleich“, ergänzt er. „Wenn die Moral sinkt, kommst du dir selber nicht mehr gut genug vor. Und das habe ich durchgemacht. Ich dachte, um Gottes Willen, ich schreibe ja nur noch fünf Songs die Woche. Früher habe ich fünf am Tag geschrieben. Was ist los mit mir? Aber so gern ich Musik schreibe und so viel Geld mir das auch einbringen könnte; wenn mein Leben nicht ausgeglichen ist, dann werde ich in anderen Bereichen leiden.“
Indem er seinen künstlerischen Ambitionen genügend Platz und Zeit eingeräumt hat, konnte West sich seiner Arbeit neu widmen, so dass ihm die kreativen Momente besonders kostbar wurden. In der Vergangenheit hat er manchmal gekämpft, um auf neue Ideen zu kommen und dadurch bekam das Schaffen einen negativen Beigeschmack. „Kreativität kann dann zu einem Ort der Frustration werden, statt ein sicherer Hafen zu sein,“ warnt er.
Wests ungebrochener Appetit auf neue kreative Unternehmungen macht es ihm möglich, sich einer breiten Vielfalt von Aufgaben anzunehmen. Er hat Gitarre gelernt, indem er Alben auseinandergenommen und nach Gehör nachgespielt hat, er hat seinen Computer neu programmiert und umgeskriptet. Es ist sein Anspruch, solche Interessensgebiete auf ihren Kern herunterzubrechen, sie in seiner Arbeit zu assimilieren und herauszufinden, welche fruchtbaren Kombinationen sich aus den Disziplinen ergeben.
Die Dinge in ihren Einzelteilen betrachten zu können hat sich für West bezahlt gemacht. Sowohl sein Sound als auch seine musikalischen Fähigkeiten sind so vielfältig, dass man ihn für spezielle Gigs als erstes anfragt. „Manchmal glaube ich, dass ich bloß ein professioneller Papagei bin“, feixt er. „Ich wiederhole und käue wieder, was ich schon mal gehört habe und dann vermenge ich Sachen und daraus entstehen dann diese merkwürdigen, komplexen Kombinationen.“ Sobald er sich etwas anhört, wird es zu einem Bestandteil seines Werkzeugkastens, das er sofort herausziehen kann und mit anderen Sounds, Texturen und Genres kombiniert. So kann man in einem Gitarrensolo genauso Heavy-Metal-Licks heraushören wie BB King, John Mayer oder einen Country-Twang. Alles aus einem Guss.
Sein angeborenes Talent, das zu liefern, was andere hören wollen, hat seine Karriere in zwei Bereiche unterteilt: die Sounds, die andere von ihm haben wollen, und die Sounds, die er für sich selbst macht. Seine Solokarriere ist in der Ambient- und Singersongwriter-Welt zu Hause, während viele seiner Mainstreamarbeiten in der Hiphop- und R&B-Szene anzusiedeln sind. Es ist diese Zweigleisigkeit, mit der er in seiner Karriere am meisten zu kämpfen hat.
„Ich betrachte das als zwei Supercomputer, du hast zwei verschiedene Ports und musst dir ein Kabel überlegen, wie du die beiden miteinander verbindest. Für mich war das Schwierigste hieran, die beiden Welten zu vermählen und auf der geschäftlichen Seite die richtige Balance zu finden. Auf der musikalischen Seite habe ich nicht so zu kämpfen, denn sogar, wenn ich da zu kämpfen habe, dann geht es nur um eine Ehrenrunde. Die Schwierigkeit liegt auf jeden Fall immer beim Business.“
„Man hat mir Plattendeals angeboten und entweder wollen die Leute mich als musikalisches Genie oben auf dem Berg sehen und wenn ich das tue, dann verdiene ich kein Geld oder sie wollen mich popbusinessmäßig glatt bügeln. ,Schneid' den Afro ab. Hör' ganz auf mit Gitarre spielen. Du musst nicht mal die Beats machen. Wir besorgen dir die Beats und stecken dich mit einem Komponisten zusammen.’ Das ist der Horror. Das mache ich nicht mit.“
Laut seiner Erfahrung in der Musikindustrie gibt es dort dieselbe Dualität. Mit Ehrfurcht spricht er über unabhängige Künstler:innen wie Bon Iver, Bibio und Unknown Mortal Orchestra, über ihre Detailarbeit und kreative Freiheit. Aber er war auch bei Aufnahmen mit Majorlabels mit dabei, wo ein Team aus Toningenieur:innen und Komponist:innen zur Verfügung steht, um mit berechneter Präzision die kommerziellen Ziele bei einem Stück umzusetzen.
Justus’ Mutter, die Autorin Charmelle Cofield, hat für Whitney Houston und Beyoncé geschrieben und den Grundstein dafür gelegt, welche Art von Profimusiker er werden wollte. „Meine Mutter und mein Vater waren beide in der Musikindustrie tätig. Meinen Vater hat es mit den Drogen ziemlich heftig erwischt, da hat es ihn rausgeschleudert. Meine Mutter ist von Musik in den unternehmerischen Bereich gewechselt. Sie hat sich selbstständig gemacht und zu beobachten, wie man Musik lieben und gleichzeitig auch andere Ideen fördern kann, hat mir geholfen.“
Nun mit seiner Frau zurück in Kansas City, „wo scheinbar nichts passieren kann“, streckt West seine Fühler wieder aus, sowohl räumlich als auch musikalisch. „Ich habe fünf oder sechs Beats bei ziemlich großen Künstler:innen laufen. Das ist cool, denn jetzt habe ich den Platz, den ich eigentlich brauche. In einer Wohnung in L.A. kann ich keinen Riesenschreibtisch mit Kunstgras haben. Hier habe ich 20 Gitarren, ein Fender Rhodes, meinen Prophet, zwei Schlagzeuge und ein paar Bassgitarren… In L.A. könnte ich das nicht.“
Bonustrack
Justus West spielt mit 1500 or Nothin’ bei Loop in L.A: