Einfach nach Gefühl: Der musikalische Weg von Liv.e
Schon zu Beginn unseres Gesprächs verweist die in Dallas geborene Künstlerin Liv.e (Liv gesprochen) auf ihre Familie, die ihre Liebe zur Musik genährt hat. Mit ihrem Vater, der für lokale Blues- und Gospelgruppen Klavier spielt, ihrer Mutter, die in der Kirchengemeinde singt und ihrem Bruder Taron Lockett, der für Erykah Badu sowie für die Bands Cory Henry & The Funk Apostles Schlagzeug spielt, war sie schon immer von Menschen umgeben, die vor der Musik eine tiefe Ehrfurcht empfinden.
Obwohl sie die berühmte Booker T. Washington High School for the Performing and Visual Arts besucht hatte, die stolz auf ihre Absolventinnen Erykah Badu und Norah Jones ist, und als Teenager noch dazu beeindruckend spröde Songs geschrieben hat, gibt Liv.e zu, sich keine Musikkarriere ausgemalt zu haben, als sie im Frühjahr 2016 die Highschool abschloss. Erst als sie nach einem Jahr vom College School of the Art Institute in Chicago gegangen war, beschloss sie, sich umfassender mit der Studioarbeit zu beschäftigen. Sie ging zurück nach Dallas, tat sich mit gleichgesinnten Musiker:innen aus ihrer Zeit an der Booker T. Washington zusammen und war an der Gründung des bahnbrechenden und spartenaufweichenden Labels Dolfin Records maßgeblich beteiligt.
Sich Ableton Live zuzulegen, das sie liebevoll „Ton-Ton" nennt, half ihr dabei, in den vergangenen drei Jahren mehrere Soloprojekte zu starten, die irgendwo zwischen Avantgarde und R&B fallen. Ihre brüchigen und rauen Lo-Fi-EPs sorgten schnell für Aufsehen und schon bald sammelte sich um sie herum eine stetig anwachsende Fanbase aus der instrumentalen Hiphop-Community, weil sie mit den Produzenten10.4 ROG und Swarvy zusammenarbeitete.
Ihre Tiefe und ihr breites Spektrum hat sie außerdem mit Kryptonyte auf Dolfin Records bewiesen, einer Formation mit Lord Byron und Pink Siifu. Unter dem Pseudonym Jade Fox hat sie 2018 auf deren Album ihre Reime über den Beats von Ben Hixon abgefeuert, der sich vom Memphis-Rap der 90er Jahre inspirieren ließ. Dort fügte sie sich nahtlos in ein Projekt ein, das ganz anders klingt als alles, was sonst in ihrer Diskographie zu finden ist. Zwar sind ihre eigenen Projekte von Natur aus freigeistig, aber hiermit hatte sie gezeigt, dass ihre Muse vielseitig genug ist, um auch mit Gleichgesinnten zu verschmelzen.
Vor der Pandemiezeit pendelte Liv.e zwischen verschiedenen Orten und führte ihrem Kreativprozess unterschiedliche Energien zu. So verbrachte sie ihre Zeit zwischen der Community um Dolfin Records in Dallas, in ihrem Zuhause in L.A., dem Haus ihrer Mutter in St. Louis und in New York. Obwohl Dallas vertraut und bequem war, baute sie während ihrer sporadischen Besuche in New York auf das riskante Arbeitsumfeld und den heftigen Wettbewerbsdruck: „Ich arbeite wirklich gern unter Druck“, meint sie. „Dort sind alle am Geldverdienen. Ich finde es gut, sich bei Bedarf mit dieser Art von Energie zu umgeben, weil man eine Menge schafft, wenn man weiß, wie man damit umgehen muss.“
Die außergewöhnlichen Ergebnisse auf ::hoopdreams:: lassen nicht erahnen, dass die Session bloß aus dem Ärmel geschüttelt wurde, aber Liv.e selbst findet das gar nicht so bemerkenswert: „Ich habe das ganze Album halt in einer Nacht gemacht“, meint sie achselzuckend. „Einfach nur so zum Spaß. Es war ja noch nicht mal sonderlich durchdacht.“
Bei ihrer Mutter zu wohnen und im langsameren Tempo von St. Louis zu schreiben, fand sie auf eine andere Weise hilfreich. Durch die friedliche Umgebung konnte sie abschalten und sich auf ihr bisher ehrgeizigstes Projekt konzentrieren, nämlich auf ihr 2020er Album Couldn't Wait To Tell You.... „Auf kreativer Ebene ist St. Louis eine coole Stadt“, sagt sie. „Ich konnte mich mal reinknien, kurz innehalten und mich einfach konzentrieren.“
Nach zahlreichen Releases auf ihrer Bandcamp-Seite betrachtet Liv.e ihr jüngstes Werk als das erste ausgereifte Solo-„Album“ ihrer kurzen, aber beachtlichen Karriere und vergleicht frühere Projekte mit einer Art Mixtape. „Keine Ahnung, warum, aber meine Freunde und ich nennen unsere kleinen Projekte gern Tapes“, erklärt sie. „Würde ich dir ein Album schicken, würde ich dir wahrscheinlich eine CD geben. Aber wenn ich dir was Kleines gebe, dann kommt das auf Tape.“
Abgesehen davon, dass die Spieldauer von Couldn’t Wait To Tell You… länger als bei ihren vorherigen Releases ist, haben auch die Umstände rund um das Album neue Standards für ihren Schaffensprozess gesetzt. „Ich glaube, ich bin jetzt an einem anderen Punkt als damals, als ich die Tapes produziert habe“, überlegt sie. „Die habe ich gemacht, um meine Miete mit zu finanzieren, und auch, um auszudrücken, wie es mir damit ging, meine Miete pünktlich zahlen zu müssen.“
Es war genau diese Energie bei Projekten wie 3AMSPACECADET, durch die ihre Fans auf sie gestoßen sind. Dennoch ist sie überzeugt, dass es sich unter dem Strich positiv auf ihr aktuelles Songwriting ausgewirkt hat, die finanziellen Notwendigkeiten gegen inneren Frieden einzutauschen. Befreit von den Ängsten, die ihre früheren Arbeiten geprägt haben, war sie nun in der Lage, eher introspektive Texte abzuliefern. Diesen Tempowechsel fand sie sowohl erfrischend als auch notwendig: „Diesmal brauchte ich mich weniger auf den Stress in meinem Leben konzentrieren, sondern eher darauf, was insgesamt los ist. Jedenfalls mehr auf so Turteltaubenkram“, sagt sie und lacht. „Ich finde das ganz cool so. Es ist eher ein erzählerisches Album geworden.“
Obwohl die Lyrics inhaltlich nun mehr abdecken, sind viele Tracks im Freestyle entstanden oder basieren auf kurzen, tagebuchartigen Skizzen statt auf zu Ende geschriebenen Songs. Und trotz des Konzepts, das den Fluss von Musik und Text voranbringt, folgt Couldn’t Wait To Tell You… keiner streng linearen Erzählung. Stattdessen hat Liv.e die Tracks wie Tagebucheinträge von den verschiedenen erfundenen Charakteren behandelt, die in ihrer Persönlichkeit stecken. In den 20 gesungenen, gesprochenen und gerappten Songs hat jeder einzelne Charakter auf dem Album zwei Einträge bekommen, um sich auszudrücken.
Die Lyrics handeln von ihrem Durchhaltevermögen trotz ihres ausgelaugten mentalen Zustands bis hin zur Aufregung, die wahre Liebe gefunden zu haben. Auf „I Been Livin'" verweben sich die verstimmten Klaviersounds und die sanften Drums perfekt mit Liv.es großartiger Stimme, wenn sie erzählt: „I'm as tired as you see/I've been walking down a long road and/I've been living as long as my soul's been in existence.” [Ich bin so müde wie ich aussehe, / ich habe einen langen Weg hinter mir und / ich lebe schon so lange, wie meine Seele existiert.] Obwohl die Worte einen eher abgekämpften Unterton haben, steckt in ihnen auch Stärke und Resilienz, wenn sie hinzufügt: „Looking back never made any sense / I’m a keep on movin'.“ [Zurückzuschauen hatte niemals Sinn / Ich bewege mich weiter.]
Auf „You The One Fish In The Sea“ verwendet sie einen tollen, ansteckenden Soulgroove und interpoliert ihn mit einem Stück von DeBarge, um sich zu ihrer Freude und Verletzlichkeit zu bekennen, die sie für die Liebe ihres Lebens empfindet: „My teeth all the way out, my smile real big now/Please now baby don't leave my side/Please don't drop me from the great big sky (I just want this to last forever).” [Meine Zähne ganz zu sehen, mein Lächeln superbreit / Bitte, Baby, geh nicht von meiner Seite / Lass' mich nicht aus dem riesengroßen Himmel fallen (Ich will einfach, dass das für immer so bleibt)]
Liv.e hat sich außerdem Gedanken gemacht, wie sie in Bezug auf den Rest des Albums mit ihrem Gesang umgehen soll und hat versucht, ihre Worte mit der Instrumentierung zu verschmelzen anstatt sie in den Vordergrund zu rücken. „Ich denke, ich habe meinen Gesang hier eher als Instrument statt als Sample eingesetzt“, beschreibt sie. „Manchmal halte ich nichts von der Idee, über dem Track zu schweben. Ich versuche lieber, mich in den Track einzufügen.“
Um ihrem reichhaltigen Gesang passende Backing-Tracks zu verpassen, hat Liv.e den Beatkünstler mejiwahn aus Oakland angeheuert, der auf einigen Songs mit dem Vintage-Keyboard Casio’s vintage SK-1 keyboard Texturen ergänzt hat. Daoud Anthony, der Mann hinter der Musik von The 1619 Projectdes New York Times Magazine sowie ShunGu, der mit Pink Siifu zusammengearbeitet hat, haben Couldn't Wait To Tell You... koproduziert. Für zusätzliche Würze sorgten auf unterschiedlichen Tracks: Salami Rose Joe Louis von Brainfeeder, die Kunstschaffenden Cheflee und Pacific Yew aus Oakland sowie der Pianist Kafari aus Maine, Portland.
Darüber hinaus hat Ben Hixon, ihr Labelkollege bei Delfin Records, den Track “It’ll Be Okay (Hymnal5)” produziert und Liv.e selbst hat sich um die Produktion von „These Pipe Dreams“ gekümmert. Sie lobt Ableton Lives einfache Bedienung, die zuverlässigen Schnittfunktionen für Samples und dafür, dass sie ihr beim Ausführen ihrer Vision geholfen haben: „Ich habe ,Pipe Dreams’ mit Ableton Live geschrieben. Das hat mir total gefallen. Live macht es einem so leicht, mit perfektem Timing alle Arten von Schnipseln hinzukriegen.“
Sogar bei den Tracks, die sie nicht selbst ausproduziert hat, hatte Liv.e beim Endergebnis die Hand im Spiel. Auf „To Unplug” hat sie sich für einen drastischen, unerwarteten Tempowechsel entschieden. In den falschen Händen könnte dieser zu abrupt herüberkommen, aber sie zieht es einfach makellos durch – eine Entscheidung, die sie wohl besser nicht überdenken sollte. „Wahrscheinlich wollte ich es irgendwann langsamer machen und dann fiel mir ein, ach, eigentlich gefallen mir beide Tempi“, erklärt sie. „Ich weiß nicht, mein Zeug ist echt nicht so komplex. Ich laufe nicht rum und sage ,Yo, Alter. Weißt du was? Eins plus eins ist gleich fünf und ich kann dir erklären, warum.’ So jemand bin ich nicht.“
Auch wenn Liv.e ihre Arbeit nicht übermäßig komplex findet, hat sie es geschafft, das beeindruckende Aufgebot an Musiker:innen und Produzent:innen über das gesamte Projekt hinweg auszubalancieren und zu steuern. Nicht alle Produzent:innen sind froh, wenn sich andere an den Früchten ihrer Arbeit zu schaffen machen, aber Liv.e hat sich die Freiheit genommen, mit dem Zugesandten zu experimentieren, zu den Beats Feedback zu geben und nach Bedarf anzupassen. „Er hat mir einfach die Loops geschickt und das war's“, so beschreibt sie mejiwahns Beitrag. Am Ende behält sie gern die Kontrolle über das Aufnehmen und über das Mixen, unabhängig davon, wer ihr einen Sound in den Topf wirft.
Liv.e zögert, als sie gefragt wird, ob sie sich das Label Sängerin, Songwriterin oder Produzentin anheften würde. „Wenn ich behaupte, klar bin ich eine Sängerin, dann würde ich wahrscheinlich mit dem Singen aufhören“, meint sie. „Der Druck ist einfach zu groß. Ich bin nichts von alledem, sondern nur ein Gefäß. Hier bin ich und ich kann nur schreiben, wenn man geistig etwas in mich hineingießt oder wenn das Universum etwas in mich hineingießt.“
Aus dem Online-Untergrund aufgestiegen, der für ihre früheren Arbeiten prägend war, hat sich das Lob für Couldn't Wait To Tell You… weit verbreitet, von den Titelseiten von Features über die Albumkritiken auf großen Plattformen bis hin zum Support durch so erfolgreiche Producer wie Alchemist. Es klingt ganz danach, als wäre sie ziemlich erfüllt von dieser Kombination aus gewagtem, idiosynkratischem Sound und dessen breiter Anerkennung. Doch ungeachtet der leuchtenden Reviews und warmen Worte von anderen, ist Liv.e – und das ist vielleicht am wichtigsten – zufrieden mit dem Endergebnis.
„Da bin ich ziemlich stolz drauf“, gesteht sie. „Es geht dort um so vieles, es ist schwer festzumachen, worum genau. Keine Ahnung, es kam einfach so aus mir heraus.“
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Text und Interview: Gino Sorcinelli