Jon Hassell: Mögliche Musik
“Wie die Videotechnik des ‘Keying in‘, bei der jeder beliebige Hintergrund unabhängig vom Vordergrund elektronisch eingefügt oder herausgefiltert werden kann, markiert die Möglichkeit, den tatsächlichen Klang von Musik aus unterschiedlichen Epochen und geographischen Ursprüngen gemeinsam in derselben Komposition zusammenzubringen, einen einzigartigen Punkt in der Geschichte”, dies schrieb der New Yorker Trompeter und Komponist Jon Hassell in den Liner Notes zu seinem Album Aka / Darbari / Java. Wir schreiben das Jahr 1983 und dieser ‘einzigartige Punkt in der Geschichte’, von dem Hassell spricht, ist das Aufkommen des digitalen Samplings, einer Technik, von der er auf seinem damals neuen Album intensiv Gebrauch macht. Für einen Künstler, der mit einer Technik arbeitet, die zu der Zeit noch in den Kinderschuhen steckt, ist es bemerkenswert, dass Hassell damals schon das Potential des Samplings als musikalisches Paradigma erkannte.
Vielleicht auch nicht ganz so bemerkenswert. Nachdem er mit Karlheinz Stockhausen, La Monte Young, Terry Riley und Pandit Pran Nath gespielt und studiert hatte, war Aka / Darbari / Java bereits Hassells fünftes Studioalbum und die feinste Destillation einer Ästhetik, mit der er schon einige Jahre lang gearbeitet hatte; eine Herangehensweise ans Musikmachen, die – in der Konzeption und der Geisteshaltung – bereits jenes Aufbrechen von Chronologie und Geographie vorausahnte, das das Sampling zu Beginn der 80er Jahre gerade erst zu ermöglichen begann.
Hassell nannte die Musik, die er damals erfand, die „Fourth World“ und definierte sie als Kombination von Merkmalen traditioneller Musikstile aus der ganzen Welt mit modernen elektronischen Verfahren. In seiner höchsten Form erweckt dieses Gemisch unterschiedlicher Einflüsse den Eindruck eines neuen stringenten Sounds. Hassell legt Wert darauf, seine Projekte sorgfältig zu unterscheiden: da gibt es das, was er die „kosmetische“ Fourth World nennt – konventioneller musikalischer Ausdruck mit geborgten Akzenten von exotischen Instrumenten, und andererseits die „geheime“ Fourth World – das strukturelle Gerüst von nicht-westlicher Musik mit westlicher Orchestrierung.
Hassells früheste Alben, die ohne Sampling-Technologie entstanden sind – Vernal Equinox (1978), Fourth World Vol.1 – Possible Musics (1980), und Dream Theory In Malaya (1981) – waren eindeutig weder moderne Updates des Exotica-Kanons, noch waren sie Jazz, Ambient, Minimal, elektronische Musik oder ethnomusikalische Experimente. Vielmehr war sein Ansatz ein viel ungewöhnlicheres Gebräu, in dem er all diese Elemente einsetzte, um eine Musik zu erschaffen, die „nicht vollkommen primitiv, nicht vollkommen futuristisch, sondern unmöglich zu verorten ist, sei es chronologisch oder geographisch.“
Jedes Album markierte ein Eintauchen in eine hoch detaillierte, geheimnisvolle und sinnliche Welt – es gab damals nichts Vergleichbares (und auch heute nicht). Ein Hörer, der ein Exemplar von Vernal Equinox erwarb und sich davon schwer beeindruckt zeigte, war das Ex-Roxy-Mitglied und Erfinder des Ambient, Brian Eno. Nachdem sie sich angefreundet hatten, produzierte Eno drei von Hassells Alben und verwendete einige seiner Ideen auf My Life in the Bush of Ghosts – einer Kollaboration zwischen Eno und David Byrne von Talking Heads. (Hassell war ursprünglich auch involviert, verließ das Projekt jedoch wegen künstlerischer Differenzen.)
Während der 80er, 90er und 2000er erweiterte Hassell seinen Sound weiter in satt-abstrakte Richtungen mit den Alben Power Spot, The Surgeon Of The Night Sky Restores Dead Things By The Power Of Sound, Maarifa Street und Last Night The Moon Came Dropping Its Clothes In The Street. Das kürzlich neu veröffentlichte City: Works Of Fiction von 1990 war ein Schritt in entschieden tanzbarere Gefilde und enthält einen soliden Housetrack, “Voiceprint” – damals veröffentlicht als 12” mit Remixes von 808 State. Im Verlauf dieser Periode weitete sich Hassells Einfluss weiter aus, und er erschien auf Alben von Peter Gabriel, David Sylvian, Kronos Quartet, Hector Zazou, David Toop und Ry Cooder, um nur einige zu nennen.
In jüngerer Zeit hört man Hassells Namen und den Begriff “Fourth World” immer häufiger in einigen der fortschrittlicheren Kreise der elektronischen Musik. Das Attribut “Fourth World” wird Don’t DJ zugesprochen, deren kaleidoskopische Tracks die Grenzen zwischen Synthesizern, Drum Machines und Gamelan Orchestern verwischen. RAMZi aus Montreal gibt Hassell als Einfluss für ihre eigene Musik an, welche in ähnlicher Weise in einem ganz eigenen Raum-Zeit-Kontinuum zu existieren scheint. Experimentierfreudige DJs wie die Optimo crew aus Glasgow und der Salon des Amateurs Resident Jan Schulte haben Compilations mit von “Fourth World” inspirierten Tracks aus vier Jahrzehnten zusammengestellt. Und in den letzten Jahren haben Labels wie Music From Memory, Soave, Séance Center and RVNG Intl. sister outlet Freedom To Spend die Musik von Künstlern wie Michael Turtle, Roberto Musci, Michel Banabila, and Richard Horowitz, neu aufgelegt oder zusammengestellt, und deren von Hassell inspirierten Werke aus den 80ern und 90ern klingen heute aktueller als zum Zeitpunkt ihrer Erstveröffentlichung.
2018 scheint nun ein vielversprechendes Jahr für Jon Hassell zu sein, um sein neues Album zu veröffentlichen. Listening To Pictures (Pentimento Volume One) ist seine erste Sammlung von neuer Musik nach neun Jahren und repräsentiert eine aktualisierte Umgestaltung all der charakteristischen Elemente von Hassells magisch-realistischer Klangwelt: die satten Akkorde und feinkörnigen Texturen, die merkwürdig komplexen rhythmischen Strukturen, die nach vorne treiben, während sie um ihre eigene Achse kreisen, und natürlich die bearbeiteten Trompeten, die klingen wie etwas zwischen einem vertraulichem Flüstern und einem Chor von Muschelhörnern.
Wir haben mit dem nun in Los Angeles ansässigen Jon Hassell über musikalische Wurzeln gesprochen, über vertikales Hören, den Rhythmus fallender Blätter und einige andere Konzepte, die sein Arbeiten über die Jahre hinweg befeuert haben, ein Leben lang voller Erkundung und Forschung mit und inmitten einiger der bedeutendsten Akteure der Musik des 20. Jahrhunderts.
Haben Sie seit Erscheinen Ihres letzten Album durchgehend an diesem neuen Album gearbeitet oder gab es eine Pause dazwischen?
Eigentlich war es wie… stellen Sie sich einen Slow-Motion-Film über eine wachsende Pflanze vor. Kleine Bruchstücke von diesem jenem spielt man auf Konzerten und dann im Studio, und schrittweise fügen sie sich zusammen. Es ist ein wenig wie der Pentimento-Gedanke, bei dem Schichten durch andere Schichten erkennbar werden. Und jede dieser Schichten kann recht undeutlich sein. Wie wenn Sie daran denken, wie Natalie Cole Duette mit ihrem Vater singt [Nat King Cole], ist die zeitliche Differenz 20, 30, 40 Jahre, das ist in etwa die Idee. Ich habe so eine große Sammlung von Schichten, dass alles, was ich mache, eine Kombination von Älterem und Neuerem sein wird. Das ist eine Art und Weise, in der man den Pentimento-Gedanken [Pentimento: das Wiedererscheinen von früheren Bildern, Formen oder Strichen in einem Gemälde, die verändert oder übermalt worden sind] auf dieses Album beziehen kann.
Dies wird auf dem Cover auch optisch aufgegriffen mit den verschiedenen Schichten aus Mati Klarweins Kunstwerken. Wie auch Miles Davis, Herbie Hancock und viele andere haben Sie einige seiner Gemälde für Ihre Albumcover benutzt. War er ein enger Freund von Ihnen?
Ja, er ist vor einigen Jahren gestorben. Wir haben uns vor langer Zeit in New York kennen gelernt und sind uns schließlich näher gekommen. Später habe ich viel Zeit in Deià auf Mallorca verbracht, wo Mati gewohnt hat und woher auch der Name meines Labels [Ndeya] stammt. Ich habe einige meiner besten Zeiten dort verbracht, in seinem Haus, und dieses Album ist eine Ehrung von Mati. Und im Innenteil der LP finden sich diese visuellen Pentimentos, die – so könnte man meinen – eine ziemlich merkwürdige Collage von Dingen sind, die aus meiner Erfahrung stammen und von Mati selbst, wie er etwas auf Leinwand malte, während ich dort war.
Eine Sache, die ich gerne von Ihnen wüsste, ist Ihr Werdegang und Ihre Entwicklung als Sampling-Künstler. Was waren Ihre ersten Erfahrungen, vorhandene Sounds in Ihren Kompositionsprozess zu integrieren?
Mal sehen...
Hat es zufällig etwas mit Stockhausen zu tun?
Allgemein gesprochen, ja. Ich meine, ich habe zwei Jahre in Köln mit Karlheinz Stockhausen verbracht. Aber Sampling stand damals noch nicht im “Wörterbuch”. Ich denke, es ist mehr eine Art Liebe und Anziehung zu der Idee von Collage. Aber es ist nicht so, dass das Konzept von Collage bedeutet, dass das Resultat am Ende auch eine Collage wird. Wenn man nach dem sucht, was einem gefällt, ist der Gedanke, den man im Kopf haben sollte: Was ist es eigentlich, was mir wirklich gefällt? Ich denke, das ist die Frage, die sich jeder Musiker und Künstler und eigentlich jeder Mensch stellt; was ihnen wirklich gefällt. Und hier liegt die Betonung auf WIRKLICH gefallen, das bedeutet: wie befreit man sich von dem, was man gelernt hat, was einem beigebracht wurde, was den Freunden gefällt, und wie sehr einem etwas gefällt, weil die Freunde es mögen oder weil es gerade angesagt ist oder weil es der Freundin gefällt oder was auch immer dergleichen.
Aber zurück zum Sampling. Noch bevor ich nach Europa gegangen bin habe ich viel Tape Slicing gemacht. Es gab dieses avantgardistische Musikmagazin “Die Reihe”, das von Stockhausen und Eimert herausgegeben wurde, und ich erinnere mich, darin über den “Gesang der Jünglinge” gelesen zu haben. Das führte mich zur Idee, die Tapes zu manipulieren.
Und natürlich taten es die Franzosen mit Ihrer Musique Concrète, während Stockhausen eher ein Purist war… elektronische Reinheit und all das, doch das ist für mich die eigentliche Wurzel des Samplings. In dieser Bewegung, zu dieser bestimmten Zeit.
Als ich in Köln war, an den "Kölner Kursen für Neue Musik", waren die Can Guys [Bassist Holger Czukay und Keyboarder Irmin Schmidt] zur gleichen Zeit dort. Wir hingen miteinander herum, und ich glaube, mein erster Acid Trip war mit Irwin, der aus Amsterdam welches mitgebracht hatte. Ich erinnere mich, dass wir in seinem Appartement – wir waren high – Gagaku Musik, klassische japanische Musik, gehört haben und gewissermaßen in dem Teppich auf seinem Boden gelebt haben. (lacht) Ich meine, es war ein Dschungel.
Aber ja, Sie haben ganz recht, danach zu fragen, denn es war im Grunde ein prototypisches Sampling, nicht wahr? – Sachen auf Tape zu zerstückeln. Eine Sache, die ich damals gemacht habe, war eine Gesangsgruppe, die sich die Hi-Lo’s nannten, zu zerstückeln – eine hippe, moderne Gesangsgruppe mit wirklich interessanten Harmonien, wirklich interessanten Wechseln und so. Also habe ich kleine Teile daraus auseinandergenommen, und ich denke, das waren meine ersten Aktionen, die man eine “Collage” nennen kann.
Dann, in den frühen 80ern begannen Sie, einen der ersten Sampling-Synthesizer zu benutzen, den Fairlight CMI, stimmt das?
Ja, das war einer meiner Lieblinge: Aka / Darbari / Java. Das war die erste Keyboard-Manipulation von gesampelten Pitches. Ich konnte also ein Pygmäen-Gesangssample abspielen, als parallele Quinten oder als anderen Akkord oder so ähnlich. Das war 1983, und ich denke, das war ein wahnsinnig wichtiger Moment in der Musikgeschichte, was mich betrifft.
Haben Sie den Fairlight auch benutzt, um rhythmische Muster auf dem Album zu erzeugen?
Nein, das waren hauptsächlich Loops von Abdou M’Boup, dem großartigen senegalesischen Schlagzeuger, entweder verlangsamt oder beschleunigt und dann gelayert. Wir nahmen den Loop rund um das Studio auf, wortwörtlich, mit dem Tape um den Mikroständer gewickelt. Das Band lief tatsächlich durch den Tonkopf [des Bandgerätes] und durch den Raum, denn damals konnte man keinen so langen digitalen Loop aufnehmen.
Besonders auf Aka / Darbari / Java, auf Dream Theory in Malaya und auf Power Spot sind die Rhythmen oft nicht offensichtlich im 4/4-Takt, sondern haben irgendwie einen mitreißenden Groove.
Ja, das ist so ein Punkt, den man meiner Meinung nach in Frage stellen sollte – und daran sind nicht Ableton Schuld oder notwendig die Technologie – aber muss denn plötzlich alles im Viervierteltakt sein? Ich meine, wenn man sich andere Teile der Welt anschaut und sich inspirieren lässt, ist es nicht zu übersehen, dass bestimmte Gefühle aus der Imitiation entstehen. Ich benutze gewöhnlich das Bild eines fallenden Blattes, das man nicht in 52 identische Abschnitte aufteilen kann. Wahrscheinlich kann man den Fall nachbilden, aber diese Art von Bewegung, dieses Fallen: hier und da wird es von einem Windhauch erfasst, um dann wieder zu fallen, dann wird es vielleicht von etwas beschleunigt; diese Art von Bewegung ist wirklich wunderschön. Und darum ist Raga so schön, weil Raga genau das tut, auch persische Musik und auch afrikanische Musik. Persische und indische Musik eher im Sinne von Melodie, aber die Rhythmen afrikanischer Musik, oder vieles davon, sind dergestalt – sie halten sich nicht ans Metronom.
Genau, also zurück zum zeitlichen Ablauf; ich habe den Eindruck, dass um Ihre Zeit in Köln herum Ihre Entwicklung als Künstler eine wichtige Wende gemacht hat. Ich wüsste gern, was Sie noch davor gemacht haben.
Wenn wir bei meinen Wurzeln anfangen wollen: ich bin in Memphis geboren und aufgewachsen. Mein Vater hatte ein Horn zu Hause herumliegen, noch aus der Zeit, als er es in einer Band spielte; und als in meiner Grundschule Musik angeboten wurde, spielte ich eben das. In der High School stand ich ziemlich auf Stan Kenton. Ich liebte diese Big-Band-Atmosphäre, dass er so auf die Tropen abfuhr, wissen Sie, und Kuba und all diese exotischen Rhythmen und all das. Dann ging ich auf die Eastman School of Music in Rochester, New York, eine sehr konservative, akademisch orientierte Schule, aber mit guten Lehrern, und dort habe ich meine Hochschulausbildung erhalten.
Ich studierte Komposition und spielte Trompete, war im Orchester, aber ich tat mich dort mit den Radikalen zusammen – mit vier oder fünf Leuten, die sich der Entwicklungen rund um Stockhausen und all dem bewusst waren. Ich heiratete danach, eine Pianistin, und wir lebten drei oder vier Jahre lang in Washington DC. Ich unterrichtete ein Jahr lang Theorie, und dann begannen die Dinge zu geschehen. Da gab es diesen Typen mit Namen Bob Moog, der die Idee hatte, dass ein Volt einer Oktave entspricht, woraus dann der Moog-Synthesizer wurde. (Wir arbeiteten später einmal an einer Sound-Skulptur; ein Tape-Loop in einer Box mit einem doppelten Spiegel darin, und jedes Mal, wenn es ein “Blip” gab, leuchtete ein farbiges Licht auf. Es war wie ein kleines Märchenland aus Blips, und jeder wurde von sechs Lautsprechern im ganzen Raum wiedergegeben.)
Danach zogen wir nach New York. Und dann gab mir der Deutsche Akademische Austauschdienst ein Stipendium, mit Stockhausen und der ganzen Truppe in Köln zu studieren. Das war großartig, denn ich verbrachte im Grunde fast ein Jahr ganz allein, und das hat mir die Augen dafür geöffnet, wie die Lebensbedingungen waren. Es war Mitte der 1960er Jahre, und es gab noch immer Kaltwasserwohnungen [Apartments ohne Zentralheizung], Schaschlik und Bratwurst... noch keine Fusion-Küche. Der Einstieg dort war also recht rauh, aber es war ein fantastisches Sammelbecken für die „Reihe“-Truppe.
Stockhausen ließ uns diese kleinen Übungen machen, in denen wir versuchen sollten, Störgeräusche aus einem Kurzwellenradio in Notenschrift aufzuschreiben. Zu der Zeit beschäftigte er sich intensiv mit dieser Art graphischer Notation, gestische Notation in Abgrenzung zu reiner Standardnotation in einem Liniensystem. Ich meine, das war auch darin enthalten, aber es war eine Art, die Struktur aufzubrechen, so dass ein kurzes Stück aus dem Kurzwellenradio, dort wo ein Sender in einen anderen übergeht, eine Melodie ergibt, wenn man es notiert... und das war eine wirklich interessante Technik, wenn man darüber nachdenkt. Man könnte sie als eine Art Graph benutzen, aber es ermutigte einen auch, Bilder zu machen und sie in der Partitur zu verwenden.
Dort verbrachte ich also drei Jahre und komponierte ein Stück mit dem Namen „Scan“, das so etwas wie meine Abschlussarbeit werden sollte, wenn man so will. Dafür ließ ich den Techniker im WDR-Studio diese kleinen Mischpulte anfertigen, die im Grunde nur An-/Aus-Schalter waren, und ich erstellte Tastaturen für immer etwa fünf dieser Schalter. In “Scan” benutze ich einen Teil aus Schönbergs “Fünf Stücke für Orchester”, mit Namen “Sommermorgen an einem See”, der im Grunde aus einem Akkord besteht, der immer weiter morpht, kaum merklich von einer langgezogenen Flöte zu einer Viola, dann zu diesem und jenem.
Ich ließ die Streicher der Orchester dort den Ausschnitt aus “Sommermorgen an einem See” spielen, sie spielten alles super pianissimo [pianissimo: sehr leise], und sie hatten alle Kontaktmikrofone an ihren Instrumenten. Und ich erstellte diese graphische Partitur nach dem Zufallsprinzip, wissen Sie, indem ich Würfel warf und so, und dann hatte ich eine Partitur, in der die Teile, die pianissimo gespielt wurden, in den Vordergrund rückten und dann an anderen Stellen stummgeschaltet wurden, und das gab dem Ganzen seine kleine Struktur. Leider habe ich keine Aufnahme davon.
Was passierte also nach Köln?
Also, danach kam ich zurück nach New York und begann mit La Monte Young und dem Theater of Eternal Music zu spielen, diese langen Dream House Dinger, die mit den Haschisch-Milchshakes und auf 60 Hz gestimmt. [Der Pionier der Bordunmusik La Monte Young stimmte seine Instrumente auf eine Frequenz von 60Hz, um sicherzustellen, dass das Restbrummen des elektrischen Stroms - 60 Hz pro Sekunde in den USA - seine Musik nicht beeinträchtigen]. Als wir einmal in Europa spielten, benutzten wir 50 Hz, so dass es keine Streufrequenzen in der Atmosphäre gab, das war ziemlich großartig; an diesem Punkt verstand ich die Idee vertikaler Musik bzw. begann, mich damit zu identifizieren. Das bedeutet nämlich, anstatt zuzuhören, wie sich eine Melodie über die Zeit entfaltet, hat man hier eine Klangfarbe, die man rauf- und runterscannen kann und kleine Bereiche anhören kann.
Solid State ist ein Stück, das aus dieser Erfahrung heraus entstanden ist. Es war eine Gruppe von acht perfekten (2:3) Quinten, die einen dichten harmonischen Block bildeten, dessen Timing von spannungsgesteuerten Filtern reguliert wurde. Das Konzept muss man sich so vorstellen wie ein Blatt Papier, das ganz schwarz von einer Bleistiftmine ist, und auf dem man Formen malt, indem man sie ausradiert. Dazu benutzte ich frühes Moog-Equipment. Der Trick war, dass man zu der Zeit viel einfacher einen Auftritt als Künstler denn als Musiker bekam: also präsentierte ich Solid State als Soundskulptur, die es ja auch tatsächlich ist, und so wurde es in Museen gespielt, mit Matten auf dem Boden und so. Das kam irgendwie auch von La Monte Young – so waren auch La Montes Konzerte, die Leute schlenderten rein und raus, so in der Art. Solid State war gewissermaßen ein Proto-Elektronica-Stück, das übrigens auf Warp Records veröffentlicht wird.
Und dann kam 1978 "Vernal Equinox", das erste Album, in dem tatsächlich viele der Fourth-World-Ideen Verwendung fanden. Darin sind viele Dinge zusammengekommen, die sich über die Zeit herauskristallisiert haben. Ich meine, man fängt an, und man hat immer noch andere Leute in seinem Kopf, da ist noch ein bisschen La Monte Young, noch ein bisschen Riley drin. Terry Riley war ein sehr großer EInfluss, auf jeden Fall – ich habe sogar auf der ersten Aufnahme von “In C” von 1968 gespielt. Ich habe ihn geliebt und wir waren wie eine Familie, mit meiner Frau und seiner Frau und all sowas.
Die Unterscheidung, die ich zwischen vertikaler und horizontaler Musik machte ist: 99,9 Prozent der Welt hört auf horizontale Weise, das heißt: “Oh, was kommt als nächstes, mir gefällt das, Boom, oh nein, was ist das, und dann kommt etwas anderes.” Das vertikale Konzept geht eher in die Richtung einer unendlichen Präsenz, indem man lernt, all das irgendwie herauszuschälen. Und das ist La Montes ganzer Ansatz, auch wenn es natürlich nicht an ihn allein gebunden ist, aber es basiert auf einem Stück mit Terry Rileys Ästhetik und benutzt diese komplexen, verzahnten Muster, die danach jeder aufgriff, wissen Sie, Glass und Reich. Aber ich habe das Glück, dass ich mit den Schöpfern zu tun hatte, und nicht mit den, sagen wir, Spinoffs.
Ein weiterer “vertikaler” Aspekt Ihrer Musik scheint in Ihrem Trompetenspiel zu liegen – nämlich durch den Harmonizer und Pitch Shifter, die Sie über die Jahre hinweg benutzt haben, um Ihre Trompete so klingen zu lassen, als spielten mehrere Instrumente auf einmal.
Was die Harmonizer betrifft, war der allererste der Eventide, vielleicht der Eventide H910? Ich habe die Modellnummer darauf vergessen, die stiegen mit der Zeit weiter auf, und schließlich hatte ich den größten, aber er war so schwer zu programmieren. Dieser neue, der H9 ist das Nachfolgemodell, voll digital und nur eine kleine Box mit MIDI-Steuerung und so. Also, ich freue mich sehr darüber, einiges davon ist auf dem Album und ich ich bin echt begeistert von den Möglichkeiten, die das bietet.
Ich war schon immer fasziniert von Parallelen und Sequenzen, diese Art Akkordbewegung in Quinten wie man sie bei Ravel und viel in brasilianischer Musik findet. Es gibt wunderschöne Stücke von Ravel, die ich einfach liebe. Es ist so, als finge man an, eine Linie mit einem Bleistift an die Wand zu malen, dann nimmt man zwei Stifte in die Hand und macht das gleiche mit zwei oder drei Stiften. Dann, wenn alles gut läuft, gibt es Jahre später eine Technik, die die Akkordwechsel übernimmt, während man selbst diese parallele Bewegung macht. Also ja, ich habe immer diese Vielfalt von Parallelen geliebt.
Außerdem war es fantastisch, mit [dem indischen klassischen Sänger] Pandit Pran Nath zu arbeiten, mehr über Vokalmusik zu lernen, über die Kurven und diese Dinge. Ich kehre immer zu der Analogie der fallenden Blätter zurück, in der man beginnt, und dann lässt man es verschwinden, und dann lässt man es wieder zurückkommen.
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