JNTHN STEIN: Beatmaker bei der Arbeit
Wir lernten JNTHN STEIN beim Produzieren einer Video-Doku über die junge Produzenten-Crew Team Supreme kennen. Wie bei allen Team Supreme-Mitgliedern waren wir sehr beeindruckt von seinen Beatmaking-Skills. Die Eloquenz und raffinierten Arbeitsmethoden des 24-jährigen Musikers waren für uns Gründe genug, ihn mit Push vor die Kamera zu setzen und zu dokumentieren, wie er von Null an Beats entwickelt.
Bei dieser Session entstanden drei Tracks, die jetzt als EP zu hören sind. Im unten angezeigten Video sehen Sie, wie JNTHN STEIN einen dieser Tracks entwickelt – vom komplett leeren Raster bis zur fertigen Komposition „Berlin III“ – und in jeder Phase des Komponierens das Wie und Warum erklärt.
Im anschließenden Interview erfahren Sie mehr über JNTHN STEINs Arbeitsweise beim Produzieren – er spricht darüber, wie er rhythmische Patterns programmiert, Arrangements entwickelt und sich beim Musikmachen von musikalischen und philosophischen Ideen inspirieren lässt.
Rhythmen: Positive and negative Räume
Im Rhythmus-Pattern von „Berlin I“ weisen Kick-Drum und Snare-Drum interessante Positionen auf. Ist das Weglassen bestimmter Elemente für dich genauso wichtig wie das Einsetzen, wenn du rhythmische Patterns entwickelst?
Rhythmus ist für mich das komplette Raster – Downbeats und Upbeats, Sounds wie Stille. Beats mit mehr Downbeats ziehen die Füße nach unten, während Beats mit mehr Upbeats nach oben ziehen – man will die Fersen anheben und springen. Der Grad der rhythmischen Dichte (klingende Noten versus Stille) erzeugt die Beat-Textur: viele Noten machen Beats konsistenter und fließender, sie fühlen sich dann geschmeidiger und angenehmer an.
Wenn die rhythmische Dichte aber zu hoch ist, wirken die Beats überladen, hektisch und psychotisch. Je reduzierter der Beat ist, desto mehr Spannung lässt sich andererseits in jenen Momenten der Stille erzeugen, in denen man keine Ahnung hat, was als nächstes kommt. Dann entstehen Brechungen und Nervosität wie bei Stop-Motion-Animationen oder Gruselfilmen – der Moment vor dem Auftauchen des Monsters. Wenn man die Parameter der Beat-Dichte (Noten und Pausen) und der Beat-Polarität (Downbeats und Upbeats auf jedem beliebigen Raster) mixt, kann man alleine durch Rhythmen jede gewünschte Stimmung erzielen – von gruselig, erschreckend und heftig über sanft und angenehm bis hin zu leicht und flockig.
Wenn ich auf Basis dieser Idee Beats mache, beginne ich mit der grundlegenden Struktur des Pulses – meist mit den Backbeats auf 2 und 4 oder einer gleichbleibenden Hi-Hat mit Viertelnoten. Es geht um etwas, das dem Hörer (und mir, dem Komponisten) ein stabiles Gefüge für das synkopierte Chaos gibt, das dann darübergelegt wird. Als nächstes entwickle ich das grundlegende Bass-Drum-Pattern. Für mich muss es eine gewisse melodische Qualität haben, da die Bass-Drum der markanteste Drum-Sound ist und im gesamten Beat die wichtigste Rolle spielt. Dies wird dann das rhythmische Thema des Songs – es soll möglichst einfach sein, aber gleichzeitig fesselnd und unerwartet. Ich lege das Pattern zuerst in einem Takt an, dupliziere das dann und variiere das Thema subtil im zweiten Takt. Diesen Vorgang wiederhole ich mehrmals, bis etwas entsteht, das wie ein Satz oder eine Melodie wirkt und eine Länge von 8 bis 16 Takten hat. Sobald die Bass-Drum inmitten der Konstanten Backbeat/Hi-Hats/Percussion funktioniert, fülle ich die übrigen Leerstellen mit zusätzlichen Sounds und Rhythmen auf. Diese sind entweder schnell und sporadisch – oder auf einem langsameren Raster, synkopisch und federnd. Der Trick besteht darin, dafür zu sorgen, dass die Kombination aus Bass-Drum und Backbeat gut klingt. Dann können alle darüberliegenden Elemente Variationen bilden und zu weiteren Track-Parts führen.
Die umgekehrte Arbeitsweise funktioniert auch gut. Für komplexe Hi-Hat-Patterns wähle ich bei Push 2 manchmal ein schnelles Raster, etwa Zweiunddreißigstel-Noten oder -Triolen, entwickle dann eine konstante Noten-Sequenz im Ratchet-Trap-Stil, lösche hier und da ein paar Noten und manipuliere die Velocity, um Wellen und Mulden zu erzeugen. Grundsätzlich beginne ich aber lieber bei Null, weil mich das dazu zwingt, bei jedem zusätzlichen Element achtsam zu sein und mehr Stille zu verwenden – ich finde das superwichtig und effektiv. Vor der Löschtaste sollte man keine Angst haben: Sie ist dein bester und aufrichtigster Freund.
Workflow: Sounds anordnen, Scales wählen und das Spektrum füllen
Welche Beziehung haben Rhythmen, Melodien und Akkorde in deinem Workflow – gibt es ein Element, mit dem du am liebsten loslegst?
Ich fange so gut wie immer mit den Drums an. Der Rhythmus ist das wichtigste und direkteste musikalische Element – ein Song/Beat sollte auch dann gut klingen, wenn er nur aus Drums besteht. Sich anfangs nur auf die Drums zu konzentrieren ist ein guter Weg, um Tracks zu starten. Sobald die Drums all die nötige Energie und Emotion einfangen, lassen sich die übrigen Elemente viel einfacher hinzufügen – die Drums übernehmen im Track den Großteil der Arbeit. Beim Auswählen von Drum-Sounds scrolle ich durch die Liste und achte auf ihre Hüllkurven und Klangfarben. Für harsche, aggressive Beats wähle ich hellere Drum-Sounds mit spitzen Transienten, für sanftere oder federnde Beats bevorzuge ich dunklere Drum-Sounds mit mehr Sustain und zarterem Attack.
Die nächste Phase ist flexibler, je nach Zielsetzung. Meist ist der Bass der nächste Schritt, das zweitwichtigste Element nach der Bass-Drum. Der Bass ist die neue Lead-Melodiestimme in der elektronischen Musik geworden, was mich sehr freut. Sein Klangcharakter gibt die Richtung für den weiteren Track-Verlauf vor – eine puristische Sinuswelle, eine Rechteckwelle oder eine Sägezahn-artige Welle, die viel heller und fetter klingt. Ein Bass mit Noise- oder chaotisch-harschen Elementen, vielleicht auch ein E-Bass, der roh und organisch ist, und so weiter.
Bei „Berlin II“ und „Berlin III“ ging es als nächstes um die harmonischen/melodischen Elemente. Dafür setzte ich mich an Keyboard-Instrumente – Rhodes und Klavier. Das mache ich oft, als Keyboarder habe ich einen persönlichen Draht zu diesen beiden Instrumenten. Man kann damit gleichzeitig Melodien und Harmonien entwickeln, mit der Melodie als Hauptstimme der Akkorde. Die Harmonien sind das musikalische Element, das am meisten Stimmungen und Gefühle ansprechen kann – seit Menschengedenken spielt es eine wichtige Rolle in der Kulturgeschichte und weckt sofort Erinnerungen. Wenn man beim Komponieren mit den Harmonien beginnt, besteht allerdings die Gefahr, dass man sich zu früh auf bestimmte Noten und Tonhöhen festlegt. Möglicherweise muss man dann manches wieder löschen und reduzieren, um Variationen zu erzeugen – oder um Variationen so beliebig zu erzeugen, wie ich das in „Berlin II“ gemacht habe.
„Der Bass ist die neue Lead-Melodiestimme in der elektronischen Musik geworden, was mich sehr freut.“
Meiner Meinung nach ist es am besten, rein melodisch zu starten – mit einem Bass, der die Tonalität festlegt, oder mit einer gefühlvollen Melodie, die auch ohne harmonischen Kontext funktioniert. Dies ermöglicht es mir, beim Entwickeln des Tracks nahezu unbegrenzte harmonische Variationen auszuprobieren. Die Melodien sollten einfach sein, ich entwickle sie auf dieselbe Weise wie meine Drum-/Bass-Patterns. Sie sollten eingängig sein, sich singen lassen, möglichst diatonisch und nicht zu lang sein – eine Länge von 8-16 Takten ist empfehlenswert. Man kann aber auch komplett auf Noten und Skalen verzichten und Sounds aus dem täglichen Leben nutzen. In diesem Fall konzentriert man sich eher auf den Ausdruck und die Kontur von Melodie.
Für „Berlin I“ schwebte mir eine surreale Stimmung vor – ein wenig gruselig, trippig und intensiv. Deswegen war mein erstes melodisches Element dieser resonante „Plopp“-Sound – erzeugt mit Collision – der zu Beginn zu hören ist. Dieser Sound hat einerseits akustisch-perkussiven Charakter, besitzt aber auch eine Tonhöhe und melodisches Potenzial. Die diatonische Tonleiter trägt viel menschliche Emotion in sich, während die chromatische Tonleiter eher etwas Animalisches an sich hat. Diese Melodie ist offensichtlich eine absteigende chromatische Tonleiter. Egal wie die erste melodische Idee meiner Tracks auch aussieht – ich lasse mich gerne auf sie ein und versuche herauszufinden, ob ich sie ausschließlich zur Entwicklung des gesamten Tracks nutzen kann. Ob als Ostinato mit verschiedenem gegenläufigen Material für A- und B-Parts, oder in kleinere Teile dekonstruiert, aus denen ich neues Material gewinne – auf dieselbe Weise, wie man aus Audio-Samples alles Mögliche entwickeln kann.
Das Frequenzspektrum spielt ebenfalls eine wichtige Rolle bei meiner Zielsetzung. Als Anhänger der Pink Noise-Kurve versuche ich immer, meine Tracks darauf auszurichten, damit sie natürlich klingen und dem, was wir im Alltag hören, möglichst nahe kommen. Innerhalb dieser Kurve gibt es immer noch genügend Platz für Spannung und Entspannung – ganz gleich, ob es um einen Beat-Abschnitt geht, der dunkler und kühler ist, weil sich darin nur Drums und Bässe befinden. Oder um einen Bereich mit Hi-Hats, hellen Synth-Sounds und Melodien, beziehungsweise Klangmaterial über 1 kHz, das die Ohren anregt und in anderen Teilen des Tracks für Intensität sorgt. Es ist mein Ziel, die gesamte spektrale Kurve aufzufüllen und dabei so viele Reduktionen und Breakdowns wie möglich zu erforschen.
Um kurz zusammenzufassen: Es gibt eine Hierarchie der musikalischen Elemente. Rhythmus ist das wichtigste und offensichtlichste Element, gefolgt von Melodien, die Individualität, eine persönliche Beziehung und Reflexion erzeugen, und Harmonien, die den emotionalen und nostalgischen Kontext bilden. Allem übergeordnet ist jedoch das Frequenzspektrum: Elektronische Musik befasst sich mit Sounds der Zukunft, die bislang noch nicht existieren – mit Sounds, die hauptsächlich aus tiefen und hohen Frequenzen bestehen und aus allem, was dazwischenliegt.
Arrangements: Kontraste sind entscheidend
Der herkömmliche Weg, Arrangements zu entwickeln, besteht darin, Variationen eines Themas zu entwickeln und zusammenzustellen, um die Varianten dann in eine Sequenz zu legen. Gehst du auf diese Weise vor oder hast du andere Strategien für deine Arrangements?
Um meine vorigen Antworten zu unterstreichen – ich beginne immer mit einer einzelnen Idee, die zu einem A-Teil und all seinen Variationen führt, die im Beat dahingehend arrangiert werden, dass verschiedene Intensitätsbögen entstehen. Mit derselben melodischen Hauptidee versuche ich dann, einen B-Teil zu entwickeln, der einen drastischen Kontrast bildet – die melodische Idee ist das einzige verbindende Element. Das funktioniert nicht immer optimal, ohne Zweifel. Doch ich mag die Vorstellung, dass sich Gegensätze verbinden lassen – für mich bedeutet das, die chaotische Absurdität von Kultur zu mixen und auf den Kopf zu stellen.
In „Berlin III“ [dem Song, den STEIN im oben angezeigten Video entwickelt] gibt es viel mehr Material, das sich überschneidet und dadurch einen sanften Flow erzeugt. Die A- und B-Teile besitzen mehr oder weniger dieselben Drums und dieselbe Melodie. Um einen Kontrast zu der dichten Akkordfolge des A-Teils herzustellen, ersetzte ich sie im B-Teil durch ein Hardrock-Riff, das aus einem Akkord besteht – hier ging es mir um den Gegensatz zwischen R&B-Opulenz und Rock-Erdigkeit.
„Egal wie die erste melodische Idee meiner Tracks auch aussieht – ich lasse mich gerne auf sie ein und versuche herauszufinden, ob ich sie ausschließlich zur Entwicklung des gesamten Tracks nutzen kann.“
Kontraste finde ich generell sehr wichtig – sie sorgen für Spannung und führen zu unvorgesehenen Ergebnissen. Ein guter Weg, Material zu produzieren, das selbst mich als Komponisten überrascht, ist das krasse Zusammenmixen der A- und B-Teile – ich lasse sie kollidieren und beobachte, was passiert. Wenn sie eine gemeinsame Komponente besitzen, kann dieser Mix funktionieren und effektiv sein – gleichzeitig überraschend und undenkbar. Das macht immer Spaß.
Um meine Ideen zusammenzufassen – Kontraste sind der Schlüssel zu Kunstwerken, die das gesamte Spektrum ausfüllen und die ganze Bandbreite zeigen: von fröhlich zu traurig, von sexy zu gruselig, von schön zu hässlich. Man muss alles zeigen, um etwas zu erschaffen, das sich echt anfühlt und an das wirkliche Leben erinnert. Gleichzeitig zeigt es das Leben auf eine neue Art und Weise. Der Kontrast entstammt einer einzelnen Idee (A), die immer von einer neuen Perspektive (B) widerlegt werden kann. A und B ringen miteinander, doch am Ende können sie koexistieren und wieder eins werden – eine Vollspektrum-Idee (AB), die ich zwar in die Welt gesetzt habe, doch sie hat sich von selbst weiterentwickelt und ist ohne mein Wissen gewachsen. Sie enthält eine Wahrheit, die meine Ideen, Gedanken, vorgefassten Meinungen und mein Ego übersteigt. Das finale Ergebnis zeigt nicht mich, sondern meine Entwicklung.
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