Yu Su: Inspiration in Bahnen lenken
Der einfache Zugang zu Musik ist für uns heutzutage eine Selbstverständlichkeit. Innerhalb kurzer Zeit können wir eine schwindelerregende Bandbreite von Klängen erkunden und unser Interesse auf hyperspezifischen Wegen durch neue und alte Musik lenken. Das hat interessante Auswirkungen auf die heutige Musik: Allumfassende Musikszenen und Stilrichtungen machen Platz für individuellere künstlerische Ansätze.
Bevor Yu Su vor sechs Jahren nach Kanada zog, war sie mit moderner westlicher Musik wenig vertraut. Dann landete sie in Vancouver und entdeckte dort die Musik des House-Labels Mood Hut, zusammen mit anderen DJs und Liveacts. Und damit begann ihre eigene kreative Entdeckungsreise. Als klassisch ausgebildete Pianistin hatte sie bereits eine Affinität zur Musik, die sie nun konsequent auf die neu entdeckte grenzenlose Klangwelt anwendete.
Seit 2014 bewegt sich Yu Su auf schnellen und brillanten Wegen durch die elektronische Musik. Sie greift Einflüsse auf und lenkt sie in kreative Bahnen – weitab von müden und systemischen Vorstellungen davon, was gerade angesagt oder geschmackvoll ist. Das Entscheidende: Yu übermittelt diese Inspiration mit einer unverwechselbaren Stimme – einem aufrichtigen und fröhlichen Sound, der sich enthusiastisch von Genre zu Genre bewegt und dabei natürlich bleibt. Mit diesen guten Vibes ist Yu Su inzwischen international erfolgreich.
Der Weg zur Produktion
Nach ihrer Ankunft in Vancouver tauchte Yu in die lebendige elektronische Musikszene der Stadt ein – vor allem in die Mood Hut-Parties. Dem Künstlerkollektiv gehören unter anderem Pender Street Steppers und Cloudface an. Mood Hut steht für eine trippige Spielart von Dance Music, die die Grenzen der ehrwürdigen House-Tradition neu ausloten will – und sich damit auf der Wellenlänge von vielen Gleichgesinnten in Nordamerika und weltweit befindet. Wegweisende Erlebnisse für Yu Su: ein Konzert von Floating Points im Untergeschoss einer Kunstgalerie und die Musik der Beautiful Swimmers aus Washington DC.
„Der Beautiful Swimmers-Track 'Cool 'Disco' Dan' von ihrem Album 'Son', 'Temple Walk' von Pender Street Steppers und 'Jump Rope Music' von Takuya Matsumoto: Diese Tracks brachten mich dazu, in die Beat-Produktion einzusteigen“, sagt Yu Su. „Ich wollte auch solche Beats machen, die immer nach vorne gehen, anstatt nur auf und ab.“
Beim Einstieg in die Welt der Musikproduktion mit Live verfolgte Yu einen sehr methodischen Ansatz. Sie holte sich die Tracks, von denen sie besonders inspiriert war, als Audiodateien in die Arrangement-Ansicht und zerlegte sie in geloopte Abschnitte. Dann analysierte sie die einzelnen Track-Elemente, um sie anschließend mit eigenen Mitteln nachzubauen. Dann bekam sie den Tipp, Lives 808- und 909-Drum-Kits auszuchecken – für die passenden Drum-Sounds. Die Terminologie der Musikproduktion und gleichzeitig Englisch zu lernen: ein langsamer Prozess. Doch über ihre forensische Analyse wurde Yu bald klar, wie man einen Track zusammensetzt.
„Das hat mir die grundlegenden Beat-Strukturen der Dance Music gezeigt“, erklärt sie, „und was unterschiedliche Sounds bewirken. Warum bestimmte Snare-Sounds bestimmter Drum Machines bestimmte Effekte haben. Aber ich habe auch gelernt, wie man eine Bassline komponiert, und wie sie die Stimmung des kompletten Tracks ändern kann: Auf die Komposition kommt es an“.
2016 veröffentlichte Yu Su zum ersten Mal Musik – You're Me, ihr Ambient-Projekt mit Scott Johnson Galley, brachte ein selbstbetiteltes Tape und später das Album Plant Cell Division heraus. Bald darauf folgte Yu Sus erste Clubmusik: Infi Love, eine 12" ohne B-Seite auf dem Washingtoner Label Peoples Potential Unlimited. Die beiden Tracks „Infi Love“ und „Soon (Moa Mix)“ klingen einerseits sehr ätherisch und stark von Vancouvers House-Szene beeinflusst, andererseits aber eigenwillig genug, um auf Yus großes Talent aufmerksam zu machen. Mit der folgenden 12" Preparations For Departure auf dem Label Arcane baute sie ihren deepen Dance-Stil dann weiter aus: submarine Exkursionen mit runden Subbässen statt Kick-Drums, prasselnden Percussion-Mantras und Reverb-getränkten Pad-Sounds.
„Die meisten Tracks von Preparations For Departure sind Aufnahmen meines allerersten Livesets – nur ich und ein Freund von mir am Fretless Bass. Später habe ich aus diesem Material Tracks gemacht – viele Pad-Sounds sind von einem Kurzweil-Synth, den ich eine Weile im Studio hatte. Ich habe die Sounds mit den Synths von Live kombiniert“, erklärt Yu Su.
Ein weites Netz werfen
Zusätzlich zur Erforschung der Produktionstechnik machte Yu auch einen Crashkurs in Sachen Musikgeschichte, um benachbarte Genres der inspirierenden House-Musik kennenzulernen – zum Beispiel die tuckernden Grooves der Talking Heads. Oder die filigranen Hi-Hats des Labels Hessle Audio – gut zu hören in Yu Sus kürzlich erschienenem Compilation-Beitrag „223“. Und sie schwärmt über Phil Collins' markante Gated-Reverb-Drums bei dessen Gastauftritt in John Martyns 1980er-Song „Please Fall In Love With Me“.
„Über 'Please Fall In Love With Me' habe ich diesen 1980er-Sound mit viel Raumklang entdeckt – so kraftvoll, aber auch ruhig und warm. Das hatte einen großen Einfluss auf die Musik, die ich seitdem mache. Keine außergewöhnlichen Sounds, aber für mich waren sie einfach brandneu. Ich wusste nicht, dass das der Sound der 1980er Jahre ist.“
Mit der 2019 auf Second Circle erschienenen 12" Roll With The Punches erreichte Yu Sus Musik einen neuen Reifegrad. Hier wurde nicht nur der üppige Hall von „Please Fall In Love With Me“ in eigene kreative Bahnen gelenkt, sondern auch Laurie Andersons Album Mister Heartbreak aus dem Jahr 1984. An die Produktionsästhetik dieser Zeit erinnert beispielsweise das glatte Finish der Gitarre von „Tipu's Tiger“ oder das abgehackte Sampling bei „Words Without Sound“.
„Vom Aufbau der Percussion in Laurie Andersons 'Kokoku' und in 'Moments in Love' von Art of Noise habe ich viel gelernt“, erklärt Yu. „Die komplette 12" auf Second Circle ist von diesen beiden Tracks inspiriert. Ich fühlte mich mit den technischen Dingen wohler, also ging es eher um das Feeling der Tracks. Zum Beispiel: Wie kann ich Musik mit einem solch offenen Raum machen? Hier war das Layering wichtig. Es gibt da überall so viele kleine Sounds. Der Song ist so voll, aber auch präzise und gleichzeitig klingt alles so lässig. Ich habe noch nicht herausgefunden, wie Laurie Anderson 'Kokoku' produziert hat, aber vermutlich hatte sie eine Band mit richtigen Instrumenten. Also habe ich versucht, diesen Sound in Live zu erreichen.“
„Meine Musik wird ja von Melodien beherrscht“, fügt Yu hinzu. „Und ich habe herausgefunden, dass ich 20 verschiedene melodische Layer in einen Track packen kann – solange es eine Hauptmelodie gibt. Und diese Melodie muss sehr geerdet sein. Andernfalls würde es leer klingen. In 'Kokoku' passiert unglaublich viel, aber es gibt eine Hauptmelodie. Der Song hat viele Noten und bewegt sich im Zickzack, aber er hat einen Fokus – einfach genial.“
Mit zunehmendem Wissen und verfeinertem musikalischen Geschmack fand Yu Su dann subtilere Wege, ihre Inspiration umzusetzen: Roll With The Punches hat bereits einen komplett eigenständigen Sound. Weniger Dancefloor-orientiert (sogar im Vergleich zu den trippigen Tracks von Preparations For Departure) und eher erratisch: Organische Percussion und lockeres Timing formen mit getragenen Melodien ein eindrucksvolles Terrain. Yu Su ist nicht die Einzige, die mit ihrer Musik solch imaginäre Orte zaubern kann: Vergleiche mit den Weltmusik-Projekten von Jon Hassell und Brian Eno oder natürlich Mister Heartbreak sind durchaus naheliegend. Aber ihre Klangpalette ist subtiler, weil sie auf platte Folklore-Instrumentierungen verzichtet und stattdessen mit eigener rhythmischer und melodischer Intuition nach grenzenlosen Klängen strebt.
Kulturelle Codes
Mit chinesischer Herkunft in einer westlichen Musikszene aktiv zu sein – das bringt mit sich, die wahrgenommene Geographie der eigenen Musik als einen wichtigen Aspekt zu betrachten. Dies wird bei Roll With The Punches sehr deutlich. Yu Su will ihre Musik nicht mit einer bestimmten kulturellen Identität in Verbindung gebracht sehen. Außerdem geht es ihr darum, orientalistische Vorstellungen zu unterminieren – durch subtile Referenzen zur chinesischen Musiktradition.
„Ich denke da an Haruomi Hosonos Idee von Sightseeing Music“, sagt Yu Su. „Ich finde das interessant: Begriffe und Genres wie 'Ambient' und 'Vierte-Welt-Musik' wurden allesamt von Europäern geprägt. Und wenn ich mit meiner kulturellen Herkunft diese Musik mache: Ist das dann Ambient? Oder bin das einfach ich?“
„Mit meiner Second Circle-12" wollte ich etwas machen, das offensichtlich zum Vierte-Welt-Genre passt – und sich gleichzeitig darüber lustig macht und es kritisiert. Es geht mir nicht darum, explizit politisch zu sein, aber ich will trotzdem darüber reden – durch die Musik. Menschen mit unterschiedlicher Herkunft nehmen Klänge einfach unterschiedlich wahr, und genau das will ich mit meiner Musik erreichen.“
Neue Techniken ausprobieren
Darüber hinaus gibt Yu Sus kreative und technische Herangehensweise den Tracks von Roll With The Punches eine ganz eigene und faszinierende Energie. Viele Tracks haben eine offene Struktur, insbesondere „Tipu's Tiger“, in dem Gitarren- und Synth-Improvisationen von Pender Street Steppers zu hören sind. Auch in anderen Tracks ermutigte Yu sowohl sich selbst als auch ihre Gastmusiker:innen zum Improvisieren – ein einfacher Piano-Plug-in-Loop lieferte die Basis für das Jammen. Das Ergebnis: Ein ausgedehnter Klangteppich, den Yu Su dann in einen abgeschlossenen Track verwandelt hat.
„Jack und Liam von Pender Street Steppers haben schon in vielen Bands gespielt“, erklärt Yu. „Neulich habe ich wieder mal gedacht, wie toll es ist, endlich diese Art von Band zu haben und mit ihnen jammen zu können.“
Handgespielte Musik trägt viel zur natürlichen Energie von Yu Sus Musik bei. Ein Großteil der Percussion, die wie mikrofonierte Hand-Drums klingt, entstand tatsächlich mit Samples in einem Drum-Rack, die dann mit einem MIDI-Keyboard getriggert wurden. In diesem Zusammenhang ist es natürlich interessant, über Yus klassische Klavierausbildung in jungen Jahren zu sprechen, die sich in den wiederkehrenden melodischen Phrasen von „Words Without Sound“ widerspielt. Damals lernte sie sehr anspruchsvolle Klavierstücke, zum Beispiel diese Komposition von Chopin.
„'Words Without Sound' ist ein Song mit zwei unterschiedlichen Teilen. Die Melodie am Anfang ist nicht wirklich im 4/4-Takt – keine Ahnung, welcher Takt das ist! [lacht]. Ich habe die Melodie in MIDI-Noten verwandelt und dann 909-Percussion-Sounds und andere MIDI-Drums damit getriggert. Und weil es sehr viele Drum-Layer sind, ist der Rhythmus gleichzeitig neben dem Takt und im Takt. Mit der Zeit ändert sich auch das Tempo, und diesen Aspekt mag ich am allermeisten.“
Ein grundlegendes Element von Yus Musik: Wie sie die formale Strenge ihrer klassischen Ausbildung mit einer aufgeschlossenen Sicht auf die moderne Musikproduktion in Einklang bringt. Unbeeindruckt von Vorstellungen, wie man Dinge (nicht) machen sollte, nutzt sie die verfügbaren Tools auf freidenkerische Weise. Das gilt für Lives Audio-Effekt Echo und auch für alle anderen Instrumente und Effekte in ihrem Studio-Setup.
„Echo hat mich zuerst sehr an das Roland Space Echo erinnert. Was mich besonders begeistert sind stark hallige und leicht verzerrte Delays“, verrät Yu. „Ich habe diese Effekte dann mehr oder weniger auf fast alle Percussion- und Drum-Spuren angewendet, um Layer mit unterschiedlicher rhythmischer Räumlichkeit zu erzeugen. Zusätzlich habe ich selbst die kleinsten Echtzeit-Parameteränderungen aufgenommen. Im Grunde bin ich eine imaginäre Band: Mehrere Leute mit Delay- und Reverb-Pedalen, die sich nicht unbedingt damit auskennen.“
Universalität des Klangs
Dieses Hin und Her zwischen erlernter Technik und instinktivem Experimentieren überträgt Yu inzwischen auch auf andere Bereiche. Ihr Interesse am Klang an sich brachte sie dazu, in akademische und galeristische Kreise einzutauchen – von Sound Art bis zu Field Recordings. Im Februar 2019 spielte sie eine ausverkaufte Show in Vancouvers Kunstzentrum Western Front, das ein oktophonisches Soundsystem besitzt. Yu Sus Performance hatte dementsprechend nur entfernt mit ihren Plattenveröffentlichungen zu tun.
„Jede Installation oder Performance in einem Galerie-Kontext ist entsprechend der Gegebenheiten anders“, erklärt Yu. „Im Western Front habe ich eine Komposition für ein oktophonisches Soundsystem präsentiert – die Sounds waren räumlich gestaltet. Trotzdem war die Komposition im Vergleich zur klassischen Definition von Sound Design und Sound Art sehr musikalisch. Im Vivo Arts Center bin ich hingegen mit CDJs aufgetreten und habe Techno-Elemente mit Drone-Samples und Chopin gemixt.“
„Dance Music ist für eine bestimmte Art von Raum gemacht“, fährt Yu Su fort. „Sound Art oder Listening-Konzerte finden dagegen oft in hellen und cleanen Räumen statt – alle sitzen und niemand unterhält sich, weil es einem bestimmten Code entspricht. Auflegen oder live spielen und Klanginstallationen sind eigentlich völlig unterschiedliche Dinge. Ich will immer beides kombinieren und die Grenzen zwischen diesen Codes, die die Leute voneinander trennen sollten, verwischen.“
Dieses ehrfurchtlose Denken überträgt Yu Su auch auf das Field Recording. Im Rahmen ihres Stipendiums für die Kunstinitiative 221A leitete sie zusammen mit Vincent Tao einen Semesterkurs für Forschung und Programmierung: Pollyanna Sound Archive Prototype 01. Das Projekt sollte seinen Teilnehmern das Field Recording auf lebendige und spielerische Weise nahebringen und Alternativen zum trockenen Katalogisieren eingefangener Geräusche aufzeigen – zum Beispiel durch Field-Recording-Exkursionen im Stanley Park in Vancouver. Die Ergebnisse des Projekts wurden inzwischen als Open-Source-Archiv veröffentlicht.
Bei Pollyanna Sound Archive stand die Gemeinschaft im Mittelpunkt“, sagt Yu. „Feldaufnahmen und Klangforschung sollen immer exklusiv sein – mit einer exklusiven Sprache und Dynamik. Und genau das wollte ich nicht. Wir haben viele Klangexkursionen unternommen und es machte so viel Spaß, die Leute beim aktiven Zuhören zu beobachten – wie sie Dinge entdeckten, auf die sie normalerweise nie geachtet hätten. Das Projekt in ein Open-Source-Archiv zu verwandeln war für mich ein guter Weg, dieser Gemeinschaft etwas zurückzugeben.“
Selbst wenn Yu Su in vielen Bereich methodisch vorgeht und damit erfolgreich ist: Was sie als Künstlerin ausmacht, ist ihre Offenheit für Möglichkeiten. Der Daoismus ist erklärtermaßen ein wichtiger Grundsatz ihrer Arbeit, und darauf lässt sich auch Yu Sus Sinn für das Gleichgewicht zwischen dem Gelernten und dem Instinktiven zurückführen. Wer es schafft, sich innerhalb kürzester Zeit mit Begeisterung auf neue musikalische Formen einzustimmen, kann auch bewusster mit Inspirationen umgehen – im Vergleich zu anderen, die jahrelang interessiert durch verschiedene musikalische Sphären wandern, bis sie dann ihren aktuellen künstlerischen Standpunkt erreichen.
„Ich frage mich oft, was 'innovative Musik' eigentlich bedeutet“, sagt Yu Su. „Die Technologie hinter der Klang- und Medienproduktion wird immer abgefahrener, besonders beim Sound Design. Was ist also wirklich innovativ? Ich betrachte Vergangenheit und Zukunft nicht eindirektional, sondern als Loop. Und wenn ich Musik mache, soll sie wirklich menschlich sein – obwohl ich alles mit dem Computer mache. Sie soll menschliche Gefühle auslösen und nicht nur futuristisch sein.“
Yu Su nutzt die Technologie, um ihren eigenen natürlichen Groove zu finden, abgedroschene kulturelle Codes zu vermeiden und sich mit Konzepten der vierten Welt zu beschäftigen. Dabei vermischt sie kritisches Denken mit kreativem Instinkt: Ein Ansatz, mit dem es ihr gelingt, sich von Erwartungshaltungen zu befreien. So bleiben ihre Möglichkeiten auch beim nächsten Schritt grenzenlos – egal von wo die Inspiration kommt.
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Text und Interview: Oli Warwick