Copy Right: Imitation, Inspiration und Kreativität
„Die meisten von uns müssen zuerst wie alle anderen klingen, um ihre eigene Stimme zu finden.“ – Neil Gaiman
Im Allgemeinen ist man der Auffassung, dass das Kopieren keine kreative Tätigkeit ist, doch in Wahrheit ist die Sache komplizierter. Dass Nachahmung ein grundlegendes Werkzeug des Lernens darstellt – schließlich lernen Babies zu sprechen, indem sie ihre Eltern nachahmen – ist eine Tatsache, die auf der Jagd nach Originalität oft in Vergessenheit gerät. Natürlich mag niemand offensichtliche Plagiate. Dennoch verdient die Diskussion über das Kopieren in allen Kunstformen mehr Differenzierung.
Seit langer Zeit wird Musik innerhalb von Stilrichtungen oder Genres gemacht. Musiker sind normalerweise auf vertrautem Terrain unterwegs und übernehmen (oder kopieren) festgelegte Formen – etwa das 12-taktige Bluesschema, die klassische indische Musik oder Folk-Traditionen – und entwickeln in deren Rahmen Variationen oder Improvisation. Da alle Menschen verschieden sind, wird es immer individuelle Herangehensweisen an die Performance oder Komposition geben: Innovation entsteht dann wie von selbst.
Erst in der klassischen Moderne und Avantgarde des frühen 20. Jahrhunderts arbeiteten Komponisten explizit in Opposition zum Vertrauten. Der renommierte Musikjournalist und -wissenschaftler Adam Harper meint, dass es „bis ungefähr 1800 so gut wie keine rechtlichen oder moralischen Bedenken hinsichtlich des Imitierens und Kopierens gab. Selbst wenn Note für Note abgekupfert wurde, wurde das eher als Hommage, legitimes Zitieren oder schlimmstenfalls als dreist betrachtet, aber nie als skandalös“. Auch heute kommt beim Kopieren niemand auf die Idee, dass die Aktion einer langen Tradition/einem Genre/einer Stilrichtung unterworfen ist. Wo ziehen wir also die Grenzlinie?
Falls der Begriff „Kopieren“ belastet erscheint: In der Vergangenheit konnten manche Anwendungen des Konzepts nicht nur als Inspiration dienen, sondern auch als Weg zur Originalität. Wenn sich Künstler die Arbeit von anderen aneignen, müssen sie dabei moralische und rechtliche Aspekte bedenken. Trotzdem ist es Zeit für mehr Ehrlichkeit bei der Umsetzung. Hier sind einige Beispiele dafür, wie das Kopieren zu besonders gelungenen und interessanten Ergebnissen führte.
Große Künstler stehlen
„Gute Künstler kopieren, große Künstler stehlen“ – dieses Zitat wird seit langem Pablo Picasso zugeschrieben. Wir verstehen es so, dass alle Künstler – zumindest in ihren Lehrjahren – andere Künstler kopieren, was zuweilen ziemlich offensichtlich ist. Große Künstler hingegen nehmen sich Ideen von anderen und machen komplett eigene Ideen daraus. Als ich 2012 den renommierten Elektronik-Experimentalisten Mark Fell interviewte, beschrieb er seine Arbeitsweise in ähnlichen Worten, wenngleich ein wenig selbstironischer: „Bei mir beginnt das Musikmachen meist mit dem Versuch, andere Dinge zu kopieren. Als Mat [Steel] und ich damit begannen, zusammen Musik zu machen [als das Duo SND], sagten wir uns, „Lass uns ein wenig von Mike Ink kopieren, ein wenig von Thomas Brinkmann und ein wenig von New York House“. Wir versuchten es, machten es ziemlich schlecht, und am Ende hatten wir etwas, das ein wenig anders klang.“ Heute ist Fell ein hochgeschätzter Künstler auf seinem Gebiet und für seinen einzigartigen Sound bekannt.
Die Geburt der Sampling-Kultur
1979 veröffentlichte The Sugarhill Gang eine Platte namens „Rapper’s Delight“, die von Sylvia Robinson, der Labelchefin von Sugar Hill Records, produziert war. Das Stück übernahm die Bassline von Chics „Good Times“ 1:1 und startete damit ungewollt die Sampling-Kultur. Die Bassline ist zwar ein elementarer Teil des Songs, doch „Rapper’s Delight“ war ein völlig neues, eigenständiges Stück mit einem grundlegenden Element, das von jemand anderem kopiert (gestohlen) worden war. Seitdem ist das Sampling eins der wichtigsten Werkzeuge vieler Spielarten der modernen elektronischen Musik.
Chris Manak alias Peanut Butter Wolf – Produzent, DJ und Gründer von Stones Throw Records – erinnert sich, dass „Sampler im HipHop ab 1987-88 zum Einsatz kamen, weil sie zugänglicher waren und völlig neue Möglichkeiten eröffneten. HipHop-Produzenten machten damals dasselbe wie HipHop-DJs: Sie suchten nach raren instrumentalen Passagen für den Hintergrund. Meinen ersten Drum-Sampler kaufte ich 1987 – er hatte vier Pads mit einer halben Sekunde Sampling-Zeit, somit konnte ich immerhin vier verschiedene Drum-Sound sampeln. 1990 kaufte ich meinen ersten Ensoniq EPS-Sampler und das eröffnete mir eine neue Welt. Damals war die Compilation-Reihe The Ultimate Breaks and Beats sehr populär – sie waren die Essenz der goldenen Ära des HipHop. Ich sampelte einige Drum-Sounds davon und durchsuchte Platten, die ich in Gebrauchtwaren- und Second-Hand-Plattenläden gekauft hatte, nach guten Musiksamples“. Heute gibt es Sample-Pakete, die Produzenten mit einer großen Auswahl an Sounds Starthilfe geben und den Einstieg ziemlich einfach machen. „Selbst wenn seit mehr als 30 Jahren gesampelt wird, kann meiner Meinung nach immer noch auf kreative Weise gesampelt werden. Als Musikfan schätze ich nach wie vor Künstler, die auf diese Weise Musik machen. Wenn ich sehe, wie junge Künstler auf 1990er-HipHop stehen (als Sampling richtig groß war), beweist das für mich, dass es immer noch etwas bedeutet. „Hotline Bling“ war wahrscheinlich der erfolgreichste Song des letzten Jahres und basierte auf einem langen Sample eines äußerst populären Songs von Timmy Thomas aus den 1970er Jahren. Es scheint, als ob die Leute immer noch auf Songs abfahren, in denen das Sampling eine wichtige Rolle spielt.“
Edits und Remixe
Die Kunst des Edits und Remixes stammt aus der Disco-Ära der 1970er Jahre, als DJs wie Walter Gibbons und Larry Levan existierende Tracks im Studio subtil manipulierten. Meist ging es darum, sie Dancefloor-kompatibler zu machen. Heute ist der Remix ein Standardformat der elektronischen Musik – Künstler werden dazu eingeladen, Tracks neu zu bearbeiten und erhalten dazu deren Stems. Heutige Edits von Chart-Hits sind interessanterweise zu Stützrädern für angehende Produzenten von Clubmusik geworden – meist sind es ihre allerersten Tracks. Oft sind solche Edits auch Genre-Übungen, was sie zu nahen Verwandten des Mash-ups macht – hier werden zwei unterschiedliche Tracks in DJ-Manier zusammengemixt, um zu überraschenden Ergebnissen zu gelangen.
Für JD Twitch a.k.a. Keith McIvor, den Resident-DJ der Glasgower Clubnacht Optimo, steht bei Edits und Remixes die Funktionalität an erster Stelle. Trotzdem weist er auf unterschiedliche Vorgehensweisen hin: „Wenn ich einen Edit mache, geht es nur darum, etwas anzufertigen, dass ein wenig besser in meinen DJ-Sets funktioniert. Meist beschränkt sich das zusätzliche Produzieren auf ein Minimum. Ich nehme einen kleinen Teil eines Tracks, loope und erweitere ihn, um einen kompletten Track zu erhalten, einen leicht geänderten Track oder etwas, das nur noch wenig mit dem Original zu tun hat. Dasselbe gilt für das Remixen: Ich versuche, Tracks in etwas zu verwandeln, das besser in meinen eigenen Sets funktioniert. Aber in diesem Fall fließt viel mehr eigene Produktion ein. Generell arbeite ich lieber an Remixen, bei denen der ursprüngliche Track ein Song und weit entfernt von offensichtlichem Dancefloor-Material ist. Wenn ich alleine an einem Track arbeite, gehört normalerweise minimales Sampling dazu, oder das Sample ist ein Startpunkt, den ich am Ende entferne beziehungsweise unkenntlich mache.“
Plunderphonics
1985 veröffentlichte der Komponist John Oswald seinen Essay Plunderphonics, or Audio Piracy as a Compositional Prerogative und erfand damit eine neue Bezeichnung für komponierte Klangcollagen. Sechs Jahre später wurde Negativland von Island Records verklagt, nachdem die Band eine EP namens U2 veröffentlicht hatte – ein Konzept-Release mit Parodien von U2-Songs und einer Plunderphonic-Version von U2s „I Still Haven’t Found What I’m Looking For“. Auf dem Cover war der Titel in extragroßer Schriftgröße zu lesen. (Negativland waren offensichtlich auf Satire aus, doch sie sind – genau wie Oswald – zur Musique concrète zu zählen, da sie buchstäblich Tonbänder zusammenklebten, um ihre Musikstücke zu erschaffen.) Für Oswald war die Cut-up-Technik von William S. Burroughs eine wichtige Inspiration.
Ein Beispiel aus jüngerer Zeit ist die australische Band The Avalanches. Auf dem 2000 erschienenen Debütalbum Since I Left You fanden sich ca. 3,500 Vinyl-Samples – damit war die Plunderphonics-Idee in der kommerziellen Popmusik angekommen.
Vicki Bennett alias People Like Us ist eine weitere Künstlerin, die auf Audio- und Video-Ebene in der Plunderphonics-Sphäre aktiv ist. Via E-Mail erklärt sie, wie sie ihre Auswahl trifft: „Ich mag vorab existierendes Material, weil es mich ein Patchwork von Informationen nähen und bearbeiten lässt, das mir wiederum als Material dient – ich kann es verändern, aufgreifen und mit anderen Elementen kombinieren. Von Rohmaterial kann man natürlich dasselbe behaupten, doch ich mag, dass alles in seiner eigenen Verpackung kommt, mit einer Geschichte und Konnotationen, die vom jeweiligen Künstler abhängen. Ich versuche, die Vernetzung aller Dinge zu feiern – egal wie unterschiedlich sie erscheinen mögen. Sie sind alle miteinander verbunden. Ich fordere auch Genres und den Musikgeschmack heraus, indem ich Elemente kombiniere, die zuweilen ziemlich gemischte Gefühle auslösen. Die unpassenden Elemente wirken oft amüsant, und ich bringe die Leute gerne zum Lachen. Schließlich macht sie das offen für die Welt der Wunder – hoffentlich.“
Konzeptionelles Kopieren
Möglicherweise ist das Kopieren als Konzept in anderen Kunstformen anerkannter, dank eines langen Diskurses, der vor über hundert Jahren mit den Ready-mades von Marcel Duchamp begann. Beispielsweise ist das Kopieren ein Grundpfeiler der Arbeit des konzeptionellen Dichters Kenneth Goldsmith – erster „Poet Laureate“ am New Yorker MoMA, dessen 2007 veröffentlichtes Manifest Uncreative Writing heißt. Sein Text Day von 2003 ist eine transkribierte und als Buch gebundene Ausgabe der New York Times, und der Text The Weather von 2005 enthält die transkribierten Wetterberichte eines ganzen Jahres.
Als weitere Konzept-Variante veröffentlichte der Künstler Cory Arcangel 2014 im renommierten Verlag Penguin Books ein Buch namens Working On My Novel, das komplett aus abgedruckten Tweets mit dem namensgebenden Satz besteht. 2007 hatte er für seinen Film A couple thousand short films about Glenn Gould einzelne Noten aus tausenden Online-Videos zu einem Arrangement von Bachs Variation no. 1 zusammengefügt.
Vier Jahre später gewann Christian Marclay mit einer ähnlichen Idee für seine Filmmontage The Clock den Goldenen Löwen der Filmfestspiele von Venedig. Der Film dauert 24 Stunden und auf der Leinwand wird jede Minute durch einen Film- oder TV-Clip dargestellt. Wenn das mal kein Triumph für die Sampling-Kultur ist.
Nicht zu vergessen: Danh Vōs exakte Nachbildung der Freiheitsstatue, die in Einzelteile zerlegt und an verschiedene Galerien und Ausstellungsorte geschickt wurde. Oder die Arbeit des Malers und Fotografs Richard Prince, der die konzeptionelle Idee des Kopieren unlängst zu einer logischen Schlussfolgerung führte, die für Aufsehen sorgte. Prince zeigte eine weitere Kostprobe seiner Kunst der Aneignung: Er sammelte Fotos, die andere Leute aufgenommen hatten, in seinem Instagram-Feed, um sie als Prints zu drucken und für viel Geld zu verkaufen. Princes einzige künstlerische Handlung bestand in seinen Kommentaren, die er auf den Posts hinterlassen hatte. Ob Provokation, Kommentar zu sozialen Medien oder konsequente künstlerische Praxis – die Arbeit warf alle möglichen moralischen und ästhetischen Fragen auf. Während es in China – einem Land, das für Bootlegging berühmt ist – mindestens sieben weitere Bände von Harry Potter-Abenteuern gibt: Keines von ihnen wurde von JK Rowling verfasst.