Musiker, die interessante Verbindungen schaffen zwischen ihrer eigenen Arbeit und der von Künstlern anderer Disziplinen, sind eine seltene Spezies. Noch seltener begegnet man einem Musiker, der über die Sphäre der Musik hinausgeht und sich mit sozialen Realitäten in einer Art auseinandersetzt, dass es keine hohlen Gesten dem Image zuliebe sind. Eine Künstlerin, die glaubhaft ihren ästhetischen Anspruch mit ihrem politischen Gewissen ausbalanciert, ist Holly Herndon. Deshalb ist es so erfreulich mit anzusehen, wie ihr Profil in den letzten Jahren immer weiter aufstrebt.
Auf ihrem aktuellen Album Platform entziehen sich Herndons dringliche Elektrosounds und ihre vielschichtigen Vokaltexturen weiterhin dem Dogmen von Lehrmeinung und Club. Und gleichzeitig bindet sie einige radikale Ideen jenseits der Musikwelt mit ein. Über ihre Auswahl von Projektpartnern, die Bildsprache ihrer Videos und die Songinhalte gelingt es Herndon überzeugend, eine Verbindungslinie zwischen Kulturkritik, Zukunftsutopien und dem ekstatischen Potenzial von elektronischer Musik zu ziehen.
Unser ausführliches Gespräch mit Holly Herndon handelte von diesen kopflastigen Themen, aber es ging auch um ihren Produktionsprozess, ihre spezielle Stimmbearbeitung und die prickelnde Welt von ASMR.
Viele der Tracks auf Platform bestehen aus zahlreichen Sound-Events. Wodurch entsteht diese Dichte?
Mein Schreiben bzw. Produzieren ist sehr an den Prozess gebunden, das heißt ich finde eine interessante Art, Material zu generieren, generiere dann sehr viel Material und editiere das im Track. Da geht es immer viel um Remixing. Ich schreibe etwas, zerschnipsele es, remixe es und wandele es in etwas anderes um. Es ist komisch, dass ich mich selber so viel remixe, denn es macht mir bei anderen Leuten normalerweise keinen Spaß.
Kannst du erklären, wie du gewöhnlich deine Tracks arrangierst und editierst? Passiert das Mixing nach bzw. unabhängig vom Komponieren und Arrangieren oder gehört es dazu?
Das variiert natürlich, aber oft steht ein bestimmter Prozess am Anfang, ob das nun ein Patch für Stimme ist, ein Percussion-System, oder etwas anderes. Sobald die Glut kommt, wächst es von selbst. Ich mag es, frühzeitig eine Stimmbearbeitung und Gesamtpalette zu bestimmen, aber die ursprüngliche Rhythmusgruppe schreibe ich viele Male um. Oft beginne ich einen Track mit einer anderen BPM-Zahl, einem komplett anderen Drum Pattern und Swing - und das kann sich dramatisch ändern. Zum Beispiel: „…wie würde dieser Sound als Jungle-Track klingen? Oh Mist, das funktioniert viel besser als der angeswingte Hip-Hop-Beat, den ich davor hatte.”
Früher habe ich viel Zeit damit verbracht, einen Track braver zu machen, unter dem Druck, ihn zu etwas zu formen, das leicht in die Schublade passt und identifizierbar ist. Mit der Zeit hat das wirklich nachgelassen. Manchmal kann man 90% seiner Zeit an etwas Interessantem arbeiten und es dann an der letzten Hürde ruinieren, weil die Zuversicht schwindet, sobald es Richtung Presswerk geht.
„Es ist ziemlich leicht, mit einem Stück zufrieden zu sein, das akkurat in ein Genre passt: Man macht sich die Sicherheit jahrzehntelanger Bestätigung zu eigen und oft kann es sehr einschüchternd sein, diesen Impuls zu ignorieren.”
Es ist schon komisch, neulich habe ich mir meine frühesten Aufnahmen angehört und ich wünschte, ich hätte damals dieses Wissen gehabt, denn ein paar von den Ideen sind irre.
Ich mixe immer am Schluss und normalerweise mit Mark Pistel, der einen besonders guten Umgang mit der wahnwitzigen Anzahl von Spuren hat, die ich zu den Sitzungen mitbringe. Ich finde es toll, wenn einige Leute ihre eigene Arbeit mixen und mastern, aber ich lebe immer schon so lange mit den Stücken und in so vielen Versionen, dass ich ein frisches Paar Ohren brauche, damit ich klar hören kann.
Es gibt eine große Vielfalt an Stimmen und Vokalsounds auf dem Album. Welche Techniken und Bearbeitungen wendest du gern auf Stimmaufnahmen an?
Die Stimme ist in meiner Arbeit sicher zentral. Ich finde immer gern Wege, sie in meinen konstruierten, synthetischen Umgebungen zum Leben zu erwecken. Das heißt dass ich mich normalerweise nicht für standardmäßige Popbearbeitung oder - mixing entscheide, wo der Vokalpart über allem steht und als separate Einheit behandelt wird. Einige Leute macht das verrückt, aber für mich verkörpert das mein Verständnis von Technologie, die ich als Teil von uns verstehe, als mit uns verflochten und eingebettet.
Über die Jahre habe ich verschiedene Techniken entwickelt und das variiert je nach Umgebung. Ich habe begonnen Stimmen einzubinden, die ich über Skype oder Youtube aufgenommen habe oder andere persönliche Momente auf meinem Laptop, sowie andere Vokalisten. Es macht mir Riesenspaß, mit den Stimmen anderer Leute zu arbeiten! Es ist toll, die Eigenheiten aufzuspüren, die sie so unverwechselbar machen.
Auf Platform werden viele Künstler gefeatured, von denen nicht alle in erster Linie Musiker sind. Was wurde durch deren Input bzw. Beitrag möglich, was du allein vielleicht nicht erreicht hättest oder angegangen wärst?
Jeder Einzelne hat etwas Unverwechselbares eingebracht, worauf ich selbst nicht gekommen wäre. Mat Dryhurst sorgt für konzeptuelle Strenge und einzigartige Produktionstechniken, außerdem hat er ein tiefgreifendes Wissen über meine Arbeitsweise. Metahaven sorgt für die politische Dringlichkeit, die Bildsprache und den konzeptuellen Rahmen, der extrem einflussreich für die Platte war.
„Lonely At The Top”, einer der gemeinschaftlich produzierten Tracks, arbeitet mit der Stimme von „ASMR-Botschafterin” Claire Tolan. Wie ist speziell dieses Stück entstanden und wie glaubst du, wird (oder sollte) die Szene, die dort gespielt und vertont wird, interpretiert werden?
Ich begann mich für ASMR zu interessieren, als ich es online entdeckte. Ich war angezogen davon, dass es ein Mittel darstellt, sich online in einer körperlichen und bedeutsamen Weise miteinander zu verbinden. Es ist wirklich süß, dass manche Leute Videos basteln, um einander Gutes zu tun - und das anonym und häufig kostenlos. Mein Partner hat mich Claire vorgestellt, nachdem er sie auf der Transmediale getroffen hatte. Sie hat in Berlin eine Radiosendung über ASMR, deshalb dachte ich, dass sie auf dem Gebiet eine großartige Tutorin sein würde. Wir entschieden uns, ein Hörspiel zu machen, das die Ästhetik von ASMR widerspiegeln sollte, aber dabei das Narrativ im Sinne einer kritischen Betrachtung des einen 1% [der Spitzenverdiener] umkehrt.
Dieser Artikel zeigt, dass reiche Menschen nicht nur glauben, dass sie zurecht ihren ganzen Reichtum besitzen, sondern auch alle Chancen, die ihnen gegeben wurden, fast als wären sie genetisch dazu prädestiniert, reich zu sein. Da greift ein Bewältigungsmechnismus, um der grässlichen Ungleichheit in der Welt einen Sinn zu geben und sein eigenes Spiegelbild zu ertragen. Wir dachten also, es wäre interessant, eine ASMR-Therapiesitzung für diese wahnhafte Gruppe von 1% zu gestalten. Wir müssen diejenigen, die gegenwärtige Machtstrukturen erhalten, in die Verantwortung nehmen.
Zwar zielt das speziell auf die 1% ab, aber wir sind alle mit schuld an diesem Phänomen. Claire drückt das in ihrem Interview mit Fader scharfsinnig aus:
„Natürlich kann man diese Studie über Bewältigungsmechanismen und Privilegienverteidigung in gewisser Weise auf uns alle anwenden. Unser Leben ist vollgestopft von dilemmatischen Verhältnissen, die in ähnlicher Weise funktionieren wie die Verkettungen unter den sehr Reichen.” Einige haben das Stück erotisch interpretiert oder als Kritik an Misogynie, aber es war wirklich keine besondere Genderdynamik beabsichtigt.
Gibt es andere Künstler, die du bewunderst und mit denen du gern arbeiten würdest?
Da gibt es viele! Ich würde gern mit Michael Stipe arbeiten. Er kommt aus dem Süden [der USA] und hat eine solche Einzigartigkeit in seiner Stimme; da wäre es interessant zu schauen, wie der Süden in Zukunft klingen könnte. Auch China Miéville gefällt mir richtig gut und ich finde seinen Schreibstil klanglich sehr reichhaltig. Ich würde gern einmal den Soundtrack zu einem seiner Bücher schreiben oder zusammen einen Plot entwickeln.
Bild und Text in dem Video für „Interference”, das in Zusammenarbeit mit dem Designstudio Metahaven entstand, sprechen offenbar die Verschränkung zwischen dem Persönlichen und dem Politischen an. „Chorus” und „Home” handeln von der Anfälligkeit des Individuums für systematische Überwachung. Repräsentiert das neue Album eine Entwicklung in deinem politischen Bewusstsein und einen stärkeren Willen, diesem eine Stimme zu verleihen? Welche Themen beschäftigen dich in diesen Tagen am meisten und wie finden sie ihren Ausdruck in der Musik und in deinem Leben als schaffende Künstlerin?
Das Album stellt auf jeden Fall eine Entwicklung in meinem politischen Bewusstsein dar - schön gesagt. Metahaven hat dieses Denken stark beeinflusst. Sie haben diesen Slogan der zweiten Frauenbewegung abgewandelt von „Das Private ist politisch”, zu „Das Private ist geopolitisch.”
Unsere Generation hat es mit einer ganzen Reihe von Themen zu tun, von Gender und Rassenungleichheit über steigende Einkommensungleichheit bis hin zu Umweltproblemen und staatliche Bevormundung; um nur ein paar zu nennen. Die Idee hinter Platform ist aber nicht der Versuch, eine spezifische Antwort vorzuschreiben, das hieße ja einen Rückzieher zu machen. Benedict Singleton spricht häufig davon, wie notwendig es ist, Plattformen zu bauen und hat den Albumtitel inspiriert.
Was wäre, wenn unsere Kunstwerke, Musik und Konzerte von Alternativen zu den Lebensbereichen handeln würden, vor denen wir zu fliehen versuchen?
Im Zuge meiner ersten Albumveröffentlichung Movement war ich als Teil einer Gruppe tourender Künstler und Musiker eingeladen. Das war für mich ein großes Privileg, wofür ich wahnsinnig dankbar bin. In den vergangenen Jahren habe ich festgestellt, dass sich viele der Festivals, Performances oder Events nicht nur in Sachen Inhalt und Kuratierung ähneln, sondern auch eine Art Realitätsflucht zu bieten scheinen. Obwohl ich diesen Zwang verstehe und das manchmal auch genieße, begann ich mich zu fragen, was geschehen würde, wenn wir anstelle einer Flucht den Ausstieg aus unserer gegenwärtigen Lage gestalten würden. Das war größtenteils beeinflusst von dem Theoretiker Suhail Malik. Er schreibt über eine Ausstiegsstrategie aus den zyklischen Strukturen zeitgenössischer Kunst, die ja diese unglaubliche Fähigkeit zur Kritik hat, die sich aber dennoch kaum niederschlägt in progressiven Veränderungen innerhalb der zeitgenössischen Kunst - was wiederum in einem Widerspruch endet. Was wäre, wenn unsere Kunstwerke, Musik und Konzerte von Alternativen zu den Lebensbereichen handeln würden, vor denen wir zu fliehen versuchen? Das muss nicht unbedingt trocken oder langweilig sein, das kann und sollte sogar ekstatisch und feierlich geschehen!
Viele große musikalische Bewegungen, auf die man sich oft bezieht, haben nach diesen Umgebungen oder Übergängen gesucht. Trotzdem mache ich mir manchmal Sorgen: Während wir uns fröhlich an den Klängen dieser Bewegungen bedienen, besteht die Gefahr, dass wir den wahren Kern dieser Kulturen verfehlen; nämlich die neuen Alternativen und Archetypen, die sie geschaffen haben. Ich mache mir keine Illusionen darüber, was ich mit meiner Arbeit erreichen kann. Aber solange ich die Chance habe, diese Gespräche anzufangen und mit jeder möglichen Facette meines Schaffens zu experimentieren, werde ich sie nutzen. Ich erwarte nicht, dass jeder an diesen Punkten interessiert ist, aber ich bin es nunmal.
Bleiben Sie bei Holly Herndon auf dem Laufenden über ihre Website.
In diesem Jahr dreht es sich bei Loop, Abletons Symposium für Musiker, unter anderem um kreative Strategien, kollaboratives Arbeiten und das produzieren jenseits von Genres.