Hinako Omori: Stille finden
Mitten im Chaos einer Welt, die im permanenten Krisenmodus gefangen scheint, ermutigt uns die Produzentin und Komponistin Hinako Omori dazu, die Ruhe unserer natürlichen Umgebung wiederzuentdecken. Obwohl sie in London aufgewachsen ist, bildet der Respekt gegenüber der Natur und der Stille den Kern ihrer künstlerischen Arbeit – ein Umstand, den Omori ihrer japanischen Herkunft zuschreibt. Sie verbindet die Tradition des Shinrin-yoku („Baden in der Waldluft“) mit ihrer musikalischen Praxis und nutzt Field Recordings, um die therapeutische Erfahrung des Eintauchens in die Natur nachzubilden. Gleichzeitig beleuchtet sie damit die dauerhafte Verbindung zwischen der Innen- und Außenwelt.
Heilsame Frequenzen
„Es gibt verschiedene Studien, die zeigen, dass sich das Betrachten eines Fotos von der Natur, beispielsweise von Wäldern, sehr positiv auf das Wohlbefinden auswirkt“, erklärt Omori. „Deshalb habe ich mich gefragt, ob die klangliche Ebene vielleicht einen ähnlichen Effekt hat – selbst wenn man sich nicht an dem Ort befindet, der zu hören ist.“ Omori berichtet von mehreren gesundheitlichen Vorteilen, etwa der Senkung des Cortisolspiegels, der sympathischen Nervenaktivität und des Blutdrucks. In allen drei Fällen sind erhöhte Werte oft Anzeichen für akuten oder chronischen Stress.
Der von der Natur bewirkte Stressabbau wurde während der Lockdowns im Jahr 2020 besonders wichtig. Damals, erinnert sie sich, war „[die Natur] manchmal der einzige Ort, den wir aufsuchen konnten, zum Beispiel einen Park. Es hat uns allen so gut getan, dort zu sein – am wirklich einzigen Ort, der uns offen stand.“
Als Omori im Sommer 2020 in Peter Gabriels Real World Studios eingeladen wurde, um eine Klanginstallation für das Womad Festival zu entwickeln, ließ sie sich von der idyllischen Umgebung des Studios inspirieren und beschloss, diese auch in ihr Debütalbums a journey einfließen zu lassen. „Es gibt da einen Bach, der um das Studio herumfließt, und Fenster, die vom Boden bis zur Decke reichen, so dass man ins Freie blicken kann: Der friedlichste Ort, an dem ich je gewesen bin.“
Die Musik selbst war bei Omoris Ankunft im Studio bereits fertig, und es gab auch schon ein klares Konzept: einen Hörraum zu erschaffen, in dem die Zuhörer:innen unabhängig von ihrem Standort Kopfhörer aufsetzen und sofort in die Naturwelt eintauchen können. „Die Musik existierte bereits als Ganzes. Aber ich wollte eine Umgebung schaffen, in der man sich in verschiedene Räume hinein- und heraustreiben lassen kann.“
Die Natur einfangen
Vor dem Studiobesuch durchforstete Omori die Umgebung nach stimmungsvollen Naturgeräuschen, zum Beispiel dem Rascheln der Blätter im Wind und den reinigenden Kräften des Wassers. Aus diesem Grund besuchte sie den nahegelegenen Chew Valley Lake, um die Bewegungen des Wassers für den Song „Ocean“ aufzunehmen.
An diesem Tag fuhren sie mit Katie May, der Chefingenieurin des Studios, in die nahegelegenen Mendip Hills. Ebenfalls mit dabei: ein binaurales Neumann KU100-Mikrofon, das für die Aufnahme von 3D-Audio wie ein menschlicher Kopf geformt ist. „So konnten wir einen Klang einfangen, bei dem man das Gefühl hatte, wirklich vor Ort zu sein, und nicht nur eine Stereoaufnahme zu hören“, erklärt sie. “Es war eine unglaublich eindrucksvolle Aufnahme.
Aber selbst bei umfangreicher Vorplanung und Recherche vor Ort hängt die Qualität von Field Recordings meist von den natürlichen Gegebenheiten zur Zeit der Aufnahme ab. „So ist die Natur: Man kann nicht vorhersagen, was bei der Aufnahme herauskommen wird.“ Es erfordert einfach viel Geduld, die Essenz einer Szenerie einzufangen.
Intuitives Komponieren
„Die Aufnahme wäre ohne die Einladung in die Real World Studios wahrscheinlich ganz anders geworden“; erklärt Omori. Zwischen der Zusage und dem Studiotermin blieben nur wenige Wochen Zeit für die Zusammenstellung der Musik. Dank Omoris intuitiver Herangehensweise stellte dies aber kein Problem dar: Sie experimentiert mit gesammelten Sounds und ordnet sie neu an, bis sie sich zu einem harmonischen Werk zusammenfügen, ähnlich wie bei einer Collage.
„Die Musik hat sich eigentlich von selbst entwickelt. Zuerst habe ich die Melodien und Tonarten zusammengesetzt, und dann festgestellt, dass die nächste Melodie in derselben Tonart beginnt. Es war fast so, als ob die Musik mir sagen würde, wie sie angeordnet werden will. Also bin ich ihr einfach gefolgt.“
Für den Einbau der Field Recordings und das Mixing des Albums entschied sich Omori für den gleichen Ansatz. Von den bewusst ausgesuchten Wassergeräuschen für „Ocean“ abgesehen geschah der Großteil der Aufnahmen instinktiv. Sie fügte die Sounds organisch in das bestehende Werk ein, anstatt sich zu sagen, sie brauche einen bestimmten Sound an irgendeiner Stelle unbedingt. „Seltsamerweise fühlte ich da keinen Zwang. Und ich wollte auch keinesfalls in die Naturgeräusche eingreifen, weil sie ja eine Karte unseres Standorts darstellen. Nichts davon ist mit Effekten produziert, und es gibt auch keine Klangbearbeitung. Ich wollte die Sounds einfach so lassen, wie sie sind.“
Musikalisches Storytelling
Wer eine solche Verbindung zur natürlichen Umwelt hat, fühlt sich natürlich auch dazu verpflichtet, sie zu bewahren. „Musik liefert uns doch einen direkten Draht zu den Gefühlen anderer Menschen.“ Aus diesem Grund interpretierte sie für ein Projekt im Auftrag der BBC Vaughan Williams' bekanntestes Werk „The Lark Ascending“ in einem elektronischen Arrangement, um auf die schwindende Population des Singvogels in Großbritannien hinzuweisen. „Ich habe die Partitur von Vaughan Williams aus den Archiven zugeschickt bekommen und hatte das Glück, damit experimentieren und etwas Neues schaffen zu können.”
Aus Respekt vor dem Komponisten achtete sie darauf, der Originalpartitur möglichst treu zu bleiben. Der innovative Aspekt des Projekts ergab sich aus ihrer Wahl der Instrumentierung: Omori nutzte den aufgenommenen Lerchengesang zur Nachbildung der ursprünglichen Geigenmelodie, was eine sorgfältige und detaillierte Bearbeitung der Aufnahmen erforderte. Sie war überrascht von der Vielfalt, die sich aus einer Aufnahme ergab, die zunächst wie eine Folge von einfachen Töne klang. „In jeder Millisekunde gibt es einen Tonfall, eine Melodie oder so etwas. Du denkst, dass du nur eine Note hörst, doch dann tauchst du ein und entdeckst, dass es wahrscheinlich 50 Noten sind. Es war mir eine große Freude, mich damit zu beschäftigen.”
Ihre Beiträge zu Brian Enos Charity-Projekt „Earth/Percent“ hatten ein ähnliches Ziel. Die Organisation ermutigt Künstler:innen dazu, einen kleinen Prozentsatz ihres Einkommens für Klimazwecke zu spenden – zum Beispiel für die Energiewende, Klimaschutz, Klimagerechtigkeit und Politikwandel. Omori ist auf den beiden jüngsten Earth Day-Compilations der Organisation vertreten – der erste Beitrag erschien 2022 und ist eine Gesangsinterpretation von Michio Miyagis Stück „Haru no umi“ [„The Sea in Spring“], das 1929 für die japanischen Instrumente Koto und Shakuhachi komponiert wurde.
Um dem Thema des Stücks gerecht zu werden, baute sie Hydrophonaufnahmen ein, die sie vom Meer in der Nähe des Hauses ihrer Großmutter im japanischen Ort Zushi gemacht hatte. „Auf mich wirkt das wie ein Schnappschuss eines Strandes – eines Ortes, der mir als Kind viel bedeutet hat. Dazu passt, dass auch Miyagis Komposition die Erinnerung an das Meer wachruft, an dem er aufgewachsen ist. Es gab also viele Faktoren, die den Eindruck erweckten, dass dieses Stück besonders mit dem übereinstimmte, für das Earth/Percent steht.”
Dem Inneren lauschen
Omoris zweites Album stillness, softness, das im Oktober 2023 erschienen ist, entstand ebenfalls im Haus ihrer Großmutter. Auf der klanglichen Ebene ist es eine deutliche Abkehr von ihrem Debütalbum. Diesmal entschied sie sich dafür, die gemachten Field Recordings – zum Beispiel Aufnahmen in einem Zug – kreativ zu verändern, um sie ungewöhnlicher wirken zu lassen. Auf dem Album kommt auch ihre Stimme stärker zum Ausdruck – was anfangs eigentlich gar nicht geplant war. „Das hat sich einfach so entwickelt. Ich habe nie wirklich daran gedacht, richtige Lead Vocals zu haben, denn schon beim letzten Album waren das eher Vocal-Texturen als konkreter Gesang.”
Die klanglichen Unterschiede sind dann auch eine Variation der Themen ihrer früheren Arbeiten. In dieser Hinsicht zitiert Omori den Kommentar einer Freundin: „Sie sagte, dass man sich beim Hören meines ersten Albums a journey eher auf die eigene Umgebung fokussiert. Bei meinem neuen Album gehe es dagegen eher darum, dem Inneren zu lauschen. Darüber habe ich vorher bestimmt nicht nachgedacht, aber meiner Meinung nach trifft es den Punkt.”
Heilung, sagt Omori, sollte mit Liebe angegangen werden – sei es für eine Einzelperson oder für eine ganze Gesellschaft. Sie erkennt die Wut und den Schmerz an, den viele Menschen beim Verlust unserer natürlichen Umgebung empfinden. „Aber wenn wir die Dinge aus einer Perspektive der Liebe, des Verständnisses, der Kommunikation und der Verbindung mit der Natur und unserer Umgebung angehen, und auch verstehen, warum dieser emotionale Standpunkt so entscheidend ist – dann kann dies aus meiner Sicht die wirkungsvollste Herangehensweise an die Klimakrise sein.”
Für alle Künstler:innen, die einen Beitrag zur Klimabewegung leisten wollen, hat sie einen Ratschlag: „Hör in dich hinein und finde heraus, was dich berührt. Alles, was wir an einem aufrichtigen Ort erschaffen, wird bei den Hörer:innen Anklang finden. Hab einfach Vertrauen, hör auf dein Inneres und lass dich von dem überraschen, das daraus entsteht.”
Dieser Artikel ist der erste einer Reihe, die in Zusammenarbeit mit dem Magnetic Magazine entsteht und die Beziehung zwischen Musikmachen und Umweltschutz untersucht.
Hier findest du die Artikel-Version des Magnetic Magazine
Mehr von Hinako Omori gibt es auf Instagram und Bandcamp und auf ihrer Website.
Fotos des Real World Studios: York Tillyer