Seit dem Siegeszug von Laptops und MIDI-Controllern wird es immer schwieriger abzuwägen, bis zu welchem Grad man Aufführungen elektronischer Musik heute noch als "live" bezeichnen kann. Viele der Set-Ups sind weit davon entfernt, dem Anwender ein direktes Feedback geben zu können, wie es etwa bei einer Gitarre oder einem Saxofon der Fall wäre. Genau aus diesem Grund suchen manche Produzenten und Musiker nach Wegen, Bedienoberflächen zu konstruieren, die sich ähnlich wie echte Instrumente verhalten.
Das Kollektiv der Hermutt Lobby hat diese Herausforderung angenommen. Es schnappt sich herkömmliche Controller und macht sie zu intuitiven Tools, mit denen eine echte Live-Version elektronischer Musik möglich ist. Obwohl sie sich als Musiker dem Downbeat verschrieben haben, so denken sie als Instrumenten-Designer über jegliche Genre-Grenzen hinweg. Es geht just um das Entwickeln von Geräten, die auf musikalische Gesten reagieren und sich folglich wie ein reales Instrument verhalten. Wir sprachen mit der Crew über Ihren Ethos und darüber, wie sie sich in ihre Controller hacken. Außerdem waren sie so freundlich, uns einen Ihrer Patches und ein Live-Set zu überlassen. Entdecken Sie also selbst, wieviel Spass das Ganze macht.
Wann begann die Unzufriedenheit mit dem eingeschränkten Live-Aspekt bei der Aufführung elektronischer Musik?
Als das Herrmutt Lobby Kollektiv vor zehn Jahren startete, wollten wir vor allem eine Live-Band sein. Wir machten ein paar Platten und gingen auf Tour. Aber die gesamte Live-Erfahrung war eine reine Enttäuschung. Und das, obwohl wir immer großartiges Feedback vom Publikum und den Veranstaltern erhielten. Es machte einfach keinen Spass, nur ein paar Knöpfchen zu drehen und damit die Effekte über voraufgezeichneten Tracks zu steuern. Wir stammen aus einer kleinen Stadt mit einer pulsierenden Rock-Szene und wir erlebten, dass all unsere Freunde wesentlich mehr Spass bei ihren Live-Shows hatten als wir. Selbst wenn sie nur in einer Garage spielten.
Uns geht es gar nicht darum, Live-Electronic-Sets in gute oder schlechte zu unterteilen. Aber es fällt schon öfter auf, dass der Fun-Faktor nicht sonderlich hoch ist und etliches von der Stange kommt. Deshalb haben wir nach Wegen gesucht, um uns von den Sequenzen zu verabschieden. Die gesamte Branche neigt ja eher dazu, in Loops zu denken. Dabei gibt es so viele Möglichkeiten, sich über solche starren Strukturen hinweg zu setzen. Es macht nicht nur Spass, Hands-on-Techniken zu entwickeln und sie auf der Bühne zu testen – es lohnt sich auch musikalisch. Denn das dadurch entstehende Gefühl ähnelt eher dem Jazz, bei dem man improvisieren kann und viel mehr seinen Instinkten folgt.
Herrmutt Lobbys neuer Track mit King Kashmere IV und Booda
Früher, als wir unsere Tunes noch in Sequenzern geschrieben haben, besuchten uns Freunde im Studio und hatten keine andere Möglichkeit, als sich die Sachen anzuhören, die wir bereits fertig hatten. Nur die wenigsten hatten Lust, selbst etwas im Sequenzer zu schreiben. Jetzt ist unser Studio voll mit Controllern, Joysticks, Pads, iPads und selbstgebastelter Elektronik. Alles interagiert miteinander über unsere Echtzeit-Performance-Patches. Jeder, der jetzt in den Raum kommt, wird Teil einer großen Jam-Session. Das gemeinsame Spielen macht soviel mehr Spass. Wir nennen das übrigens "Echtzeit-System-Musik".
Wie sehen einige der Herausforderungen aus, damit solche Gerätschaften auf komplexe, winzige Gesten reagieren?
Das größte Problem, wenn man in Echtzeit spielen will, liegt bei den Latenzen. Um einen Controller als Instrument nutzen zu können, müssen wir die Latenz so gering wie möglich halten, idealerweise nicht höher als vier Millisekunden. Jedes Gerät innerhalb des Set-Ups sorgt für eine weitere Latenz, sei es ein Controller, ein Rechner oder eine Soundkarte. Wir sind also ständig bemüht, jedes nicht verwendete Teil aus der Kette rauszuhalten.
Wie bekommt Ihr Eure Programme auf diese bereits existierenden Controller? Überschreibt Ihr die Betriebssysteme mit eigener Software?
Es wäre großartig wenn das ginge. Bei den Geräten, die wir auf dem Markt vorfinden, ist es ist entweder gar nicht machbar oder viel zu kompliziert. Aber im Prinzip sendet ja jedes Gerät MIDI-Befehle. Also schreiben wir Software, die Live mit dem Controller verlinkt. Wenn unsere Zielsetzungen über die Fähigkeiten eines Gerätes hinausgehen, meinetwegen aufgrund von Beschränkungen der Firmware, dann entfernen wir die vorhandene Elektronik und schließen die Sensoren direkt an einen voll programmierbaren Micro-Controller. Das kann ein Arduino or Teensy sein, auf den wir unsere eigene Firmware setzen, um die Sensordaten zu nutzen oder MIDI-Nachrichten zu senden.
Vor gar nicht allzu langer Zeit haben wir aus einem Controller für die Playstation 3 ein tragbares kabelloses Instrument gemacht und auf dem Music Tech Fest Hackathon in London vorgestellt. In diesem Fall haben wir die Elektronik behalten, den Beschleunigungsmesser, das Kreiselgerät und die Joysticks. Wir entfernten die Original-Tasten und ersetzten nur einen der Joysticks durch einen Innofadder mit augmented caps aus einem 3D-Drucker. Gleichzeitig bauten wir einen ganz simplen druckempfindlichen Ständer für das iPad, um es mit Anschlagdynamik und Aftertouch zu versehen.
Aktuell entwerfen wir unsere eigenen, für die Bühne gedachten Controller, die hoffentlich ab Frühjahr 2016 erhältlich sind. Sie werden deutlich robuster sein, mit speziellen Patches für Max for Live. Wir lassen sie bewusst offen, damit auch andere Hacker mit der Architektur herum experimentieren können.
Was interaktive Kompositionen anbelangt, so scheint Eure BeatSurfing-App ein echter Satz nach vorn zu sein. Wie beeinflusst das lebendige visuelle Interface der App die Art des Musikmachens? Wie könnte sich dadurch die Produktion von Musik verändern?
Mit BeatSurfing ändert sich der Kompositionsprozess grundlegend. Das Layout der App entwickelt und verändert sich mit der Komposition. Es können keine Tracks damit abgespielt werden, man muss schon alles physisch interpretieren, um sich Gehör zu verschaffen. Es ist nicht mehr nur ein Music-Controller, sondern vielmehr ein System, indem jedes Element in Beziehung zueinander steht. Alles hat Einfluss auf alles.
Herrmutt Lobbys BeatSurfing-App
Man könnte es wohl gut mit Handwerkskunst beschreiben. Die Leinwand ist vorgegeben, aber was am Ende herauskommt, hängt vollkommen davon ab, wer gerade spielt. Wir werden in den kommenden Monaten neue Apps veröffentlichen, die die bereits gemachten Erfahrungen mit dem iPad und dem iPhone deutlich erweitern.
Wurde Eure Software schon mal so verwendet, wie Ihr es Euch bei der Entwicklung nicht hättet vorstellen können?
Es gibt unglaubliche Beispiele. Eines ist sicherlich das Accessible Youth Orchestra, in dem behinderte Kinder mit Instrumenten und iPads mit Beatsurfing performen. Und das “iPad Orchestra” des DigiEnsembles in Berlin ist auch extrem beeindruckend.
Bleiben Sie mit Herrmutt Lobby über Soundcloud und über die Bandwebsite in Kontakt.