Heavee: Notizen an das Selbst
Die frühen Produktionsexperimente des multidisziplinären Footwork-Artists Darryl Bunch Jr., ursprünglich einem Videospiel- und Cartoonfan, entstanden unter der Mentorschaft des Footwork-Pioniers DJ Rashad im Teklife Collective Chicago. Bunch Jr. debütierte unter dem Namen Heavee und ließ den Einfluss seiner Partner:innen besonders in frühen Veröffentlichungen stark spüren. Heavees von Entdeckergeist getragene und liebevoll gefertigte Debüt-LP WFM aus dem Jahr 2018 enthielt Kollaborationen mit Footwork-Artists wie DJ Phil, Gantman, DJ Paypal und Sirr Tmo, sowie einen Track aus der gemeinsamen Autorschaft mit dem bereits erwähnten DJ Rashad.
Erfolge erzielte Heavee mit der 2022 erschienenen, von Videospielmusik beeinflussten EP Audio Assault - einer wohlkonzeptionierten und gleichermaßen mutierten Footwork-Platte, die die Kultur des Genres mit Dance-Downs und „Boss Battle"-Routinen unterstreicht. Heavees zweite LP Unleash geht noch einen Schritt weiter und schreibt dessen Namen in den Kanon des Footworks ein. Mit 160-BMP-Templates als Sprungbrett für ausdrucksstarke Mikrorhythmen sowie Elementen aus R&B, Rap und Jazz bringt Unleash Heavees einzigartigen, welten-bildenden Sound voll zur Geltung.
Was hat deine Musik mit deiner Liebe für Videospiele zu tun?
Die Videospiel-Kultur war schon früh ein wichtiger Teil meines Lebens, verschiedene Spiele haben sich dabei auch mit elektronischer Musik beschäftigt und meine eigenen Perspektiven darauf beeinflusst. Spiele wieJet Set Radio und Streets of Rage haben sich mit Detroit-Techno und Chicago-House auseinandergesetzt, und Musikschaffende wie Hideki Naganuma haben richtig schöne Musik gemacht, die man in den verschiedenen Levels der Spiele erlebt hat. Ich wollte diese Sounds in meiner Musik ausprobieren, wusste aber, dass ich mich da hinarbeiten musste
Ein paar der Spielkonsolenhersteller haben so eine Art Musikproduktionssoftware verkauft. War das Teil deiner Bildung?
Das erste Mal, dass ich mit sowas gespielt habe, war ein Mario-Spiel auf der Super-Nintendo. Das hatte Noten, jede Einzelnote entsprach verschiedenen Charakteren und man konnte damit kleine Melodien und sowas bauen. Als die PlayStation 2 dann rauskam, gab es Spiele wie eJay Clubworld, in denen es mehr um DJing und das Arrangieren von Loops ging, und Magix Music Maker und Funkmaster Flex’s Digital Hitz Factory, die für mich alles verändert haben. Das hatte vorgebaute Sounds und ein USB-Mikrofon, womit man Loops und Pattern mit etwas zusammenbauen konnte, was an einen Arranger im Tracker-Stil erinnert hat.
Du meintest, auch Cartoons hatten einen Einfluss auf dich. Inwiefern?
Als Kind in den frühen 90ern habe ich viel Fernsehen geschaut, Cartoons waren meine Welt. Ich weiß noch, dass die Powerpuff Girls sehr aggressive Drum&Bass-/Jungle-Songs hatten, und natürlich haben auch Filme Techno- oder Jungletracks für Actionszenen benutzt. Wie die mit Breaks umgegangen sind, wies auf eine Verbindung zu Hard House hin, und das hat auf mich wohl einen Eindruck hinterlassen, auf die ich später zurückkam, was spannend ist, weil ich heute mit Jungle- und Grime-Artists zusammenarbeite.
Gab es einen Pfad von House bis hin zum Juke-/Footwork-Genre, das in deinen Produktionen vorherrschend ist?
Ich sehe da schon einen roten Faden. In den früheren Ghetto-House-Szenen ging es um Musik und Tanz, einschließlich Showcases, Aufführungen und Battles. Im Laufe der Jahre konzentrierten sich die Communities dann aber weniger auf Showeinlagen oder auf das, was wir früher „Dance Downs" nannten, wo Crews aus der ganzen Stadt choreografierte Routinen einstudiert haben und in Shows und Paraden gegeneinander angetreten sind. Das Musikvideo von RP Boos' „Bangin' on King Drive” zeigt gut, wie diese Szene aussah. Auch wenn die Musik mit der Zeit immer einfallsreicher wurde, bin ich froh, dass ich zu den Schwarzen und Braunen Produzent:innen gehöre, die in ihren Kellern auf Basis dieser Kultur und Community elektronische Musik mit Synthesizern und Drumcomputern produziert haben.
Gibt es irgendwas, anhand dessen man das Juke-Genre von Footwork unterscheiden kann, oder sind die austauschbar?
Technisch gesehen könnte man sie austauschen, sie dienen aber verschiedenen Zwecken und Aspekten. Wie schon in Bezug auf die Showcases und das Ausprobieren von Skills erwähnt, geht Juking Hand in Hand mit dem Tanzen, Feiern und Rumhängen, und der Sound geht mehr in Richtung der minimaleren Seite von Four-To-The-Floor-Chigaco-Ghettohouse-Rudimenten und -Rhythmen, während Footwork zwischen den verschiedenen Styles der verschiedenen Crews hin und her springt. Es gibt einen Austausch zwischen dem, was die machen, und dem, was Musikproduzenten dann machen, wenn sie deren Videos ansehen. Ein Produzent denkt zum Beispiel über ein paar ihrer Moves nach, oder darüber, wie viele Zählzeiten sie für einen Schritt gebraucht haben, und verarbeitet das dann in einem bestimmten Track. Juke und Footwork sind also Teil derselben Kultur, aber Juke war zuerst da und Footwork ist vielleicht ein Teil davon oder ein Nebenprodukt davon.
Auf deinem Debütalbum WFM gab es bei fast jedem Track Kollaborationen, auf Unleash dagegen nur bei einigen wenigen. Wolltest du bewusst ein Album machen, das du ganz dein eigenes nennen kannst?
Entschuldige meine Ausdrucksweise, aber ja, verdammt [lacht]! Es hat mir so viel Spaß gemacht, WFM zu machen und an Tracks wie „So High” und dem Titeltrack zu arbeiten, die im Haus von DJ HANK entstanden sind, als DJ Paypal nach Chicago kam, zusammen mit Gant-Man, Sirr TMO und DJ Phil. Wir waren alle zusammen im Studio und haben an den Tracks gefeilt und verschiedene Ideen ausprobiert. Es gab Momente, in denen wir gleichzeitig auf die Pads drückten, was auch richtig Spaß gemacht hat, aber alle waren verwirrt darüber, was jetzt von wem war. Ich musste mich damit abfinden, also habe ich gleich nach dem Release angefangen, viel jazziges Zeug zu hören, habe mich wieder mit älterem Material beschäftigt, das ich sampeln konnte, und angefangen, neue Künstler wie Brainstory oder Apifera zu hören. Ich habe eine riesige Playlist gemacht und festgestellt, dass man bei den Credits klar erkennen kann, wer was gemacht hat, also dachte ich, dass es sinnvoller wäre, wenn die Leute bei meinen Platten nicht über sowas nachdenken müssten.
Denkst du, dass dein Sound durch zu viele Kollaborateure verwässert oder man ihn nicht mehr so eindeutig identifizieren kann?
Es gibt dieses lustiges Sprichwort mit den zu vielen Köchen, und genauso fühlte es sich nach WFM an. Aber es war mein erstes Album, und ich war dankbar für jeden, der mir Ratschläge geben und mir helfen konnte. Jetzt höre und schätze ich so viele verschiedene Alben von oben bis unten, dass ich mich wohler fühle, wenn ich mein Konzept oder meine Geschichte einbringen kann oder weiß, wann ein Song fertig ist.
Hast du das Gefühl, dass Unleash mit seinem Fokus auf kompliziertem Sounddesign die Lücke zwischen Dancefloor und experimentellem Hören zu Hause schließt, oder bist du froh, dich außerhalb der typischen Dance-Musik-Klassifizierung zu bewegen?
Ich musste darüber nachdenken, weil ich wusste, dass ich mehrere Songs auf das Album packen würde, die weniger Drums haben, Ambient sind oder sehr lange Intros haben. Teil dieses Prozesses war es, über die Musik nachzudenken, die ich als Kind gehört habe, wenn ich Videospiele, Filme und Cartoons sah und hörte. Ich wollte Footwork herausstellen und gleichzeitig die Ideen und Sounddesign-Techniken einfließen lassen, die inzwischen zu meinem Markenzeichen geworden sind.
Ich habe gelesen, dass du von Steve Goodmans BuchSonic Warfare: Sound, Affect, and the Ecology of Fearbeeinflusst warst, in dem es darum geht, wie Sound als Waffe verwendet werden kann?
Mir war nie so klar, dass Musik auch einem Zweck folgen kann, der über meine Freude an ihr hinausgeht. Wir erkennen aber ja zum Beispiel sofort, dass der Klang von Sirenen und Krankenwagen dazu dient, auf sich aufmerksam zu machen und zum Handeln aufzufordern. Das Wissen darum, dass Musik für sowas verwendet werden kann, führte mich zu der Erkenntnis, dass ich verschiedene Texturen ausprobieren kann, deren primärer Zweck nicht unbedingt Genuss ist. Ich schätze den Autor von Sonic Warfare, Steve Goodman, sehr für diese Idee, aber ich fand auch, dass Künstler wie Eprom, Jimmy Edgar, Kode9 und Machinedrum dieser Theorie Material gaben und gute Arbeit leisteten, indem sie Techniken ausprobierten, die sich für mich innovativ anfühlten.
Du hast Physical Modeling genau studiert. Was hat das beinhaltet?
Physical Modeling hat mir ein Verständnis für Konzepte wie Attack, Impact, Tension und Relief gegeben und mir geholfen, deren Anwendung zu verstehen. Da ich im digitalen Bereich arbeite, habe ich zum Beispiel darüber nachgedacht, dass das Highend von Drums ein Element sein könnte, das Lowend aber etwas völlig anderes, oder ich habe zwei Instanzen eines Drum-Synthesizers verwendet, sie mit verschiedenen Effekten versehen, den Ton manipuliert und sie gleichzeitig aufgenommen. Ich habe wahrscheinlich kein tiefes Verständnis davon, aber das erstmal auszuprobieren und die Ergebnisse zu mögen, reicht mir.
Wenn man von VCAs und Filtern spricht, denken die meisten Leute sofort an Hardware und nicht an Software. Betrachtest du diese Technologien als zusammenhängend oder getrennt?
In meinem aktuellen Stadium sind sie eher getrennt, aber ich habe ein paar verschiedene Setups. Wenn ich Footwork- oder House-Tracks mache, verwende ich Software-VST-Plugins von Arturia Analog Lab und die verschiedenen Synthesizer der V Collection oder etwas von Native Instruments, und dann habe ich meine Akai MPC Drums als VST-Plugin oder verwende die MPC für die MIDI-Programmierung. Andererseits mache ich auch DAW-freie Hardware-Jams für meine Instagram- und YouTube-Communitys. Dazu verwende ich Geräte wie den Korg Volca Sample, Volca FM, Korg SQ-64 Sequenzer, Teenage Engineering OP-1, K.O. II Pocket Operator oder POM 400 und schließe all diese Geräte an meinen Mixer oder mein Black-Lion-Audio-Interface an und nehme sie in Ableton auf, das ich als Mehrspur-Recorder verwende. Die Live-Jams erlauben es mir, mit verschiedenen Ideen zu spielen, das Potenzial eines Alias zu erkunden oder eine Hardware-Show aufzubauen, aber ehrlich gesagt geht es mir vor allem darum, Spaß zu haben, aufbauend auf der ursprünglichen Idee, mit Freunden zu jammen, die ähnliches Equipment haben, oder einen tragbaren Synthesizer zu einer Studio-Session mitzubringen.
Du nutzt für den Anfang von Ideen auch Ableton Note?
Als Ableton Note angekündigt wurde, habe ich die App sofort heruntergeladen, weil ich auf Twitter gesehen hatte, was Leute darüber schreiben. Ich fand die Idee super, Ideen zu entwickeln, ohne sie unbedingt an einem Ort fertigstellen zu müssen, an dem ich normalerweise nicht in der Lage wäre, meinen Laptop aufzuklappen und ein Mikrofon oder ein Keyboard herauszuholen. Ich weiß noch, wie ich nach einer Aufnahmesession in New York einen dreistündigen Aufenthalt am Flughafen hatte und gute Laune hatte, weil alles ganz gut lief, also öffnete ich Ableton Note und spielte eine sehr frühe Version des Titeltracks „Unleash” ein. Mit der frühen Version konnte ich mein Projekt noch nicht übertragen, aber zwei Wochen später kam ein Update heraus, mit dem ich es in die Cloud hochladen konnte. Zurück im Studio öffnete ich die Session-Ansicht, jammte eine Weile mit dem Track, spielte ein wenig mit den Triolen und machte ein paar granulare Vocal-Arbeiten. Sobald ich sekundäre Elemente hatte, die den Eindruck erweckten, dass es zwei Drops gab, nutzte ich die MIDI-Funktion, um die Session zu sequenzieren und mit der Aufnahme in der Arrangement-Ansicht von Ableton zu beginnen.
Worin unterscheidet sich Note von den tragbaren Hardware-Module, die du von Session zu Session mitnimmst?
Note ist krass, weil man so die Zeit zurückbekommt, die man nicht im Studio verbringen konnte. Jetzt kann ich einfach eine EP im Zug aufnehmen, um Ideen zu sammeln und diese dann ins Studio mitnehmen, um sie weiter auszubauen - und der Track könnte noch am selben Abend in einem Club gespielt werden und sich am nächsten Tag bereits verbreiten. Die Software wird auch einfach stetig verbessert, weil Ableton in offenem Austausch mit seinen Kund:innen steht, sodass wir Änderungen immer in Echtzeit sehen können, in Kontakt bleiben und immer weiter damit arbeiten.
Erzähl uns doch ein bisschen was über den Track „Bounce Dat”, bei dem die Vocals von Paypal & Dan TOG stark bearbeitet wurden. Wie hast du den beiden erklärt, was du wolltest, schon im Wissen darum, dass die Vocals bearbeitet werden würden?
Ob du es glaubst oder nicht, dieser Track stammt eigentlich aus einer Session, die um die WFM-Zeit herum begann. Seitdem hat sich viel verändert, aber Dan TOG weiß, wie Footwork Vocal-Samples eingesetzt und wie sie stark manipuliert, verzerrt oder auf eine sehr frenetische Art und Weise zerhackt werden können. Er findet das gut, also haben wir verschiedene Call-and-Response-Strukturen ausprobiert und sind bei „Bounce dat ass" gelandet und haben uns darauf eingelassen [lacht]. Das ist der Track, den ich erwähnt habe, bei dem wir gleichzeitig auf Knöpfe gedrückt haben - Ich und Paypal haben uns einfach wirklich um das Kick-Pattern gestritten.
Die LP endet mit „Smoke Break”, einem Track mit stärkeren Jazz-Einflüssen. Der Track kligt fast wie ein Live-Take, obwohl er aus unterschiedlichen Sessions kommt…
Jazz ist ein Musikstil, der in meiner Kultur und Community immer einen hohen Stellenwert hatte, also wollte ich mit das durch die Footwork-Brille anschauen. Für den ersten Teil habe ich einen virtuellen Drum-Synthesizer von Reaktor verwendet, der über ein akustisches Setup verfügte, das ich mit den Standard-Amps von Ableton verstärkt habe, damit es richtig lebendig klingt. Homesick hat in einer separaten Session Keyboards und Streicher beigesteuert, die wir mit den Drums gemischt haben, und ich habe den Bass darunter gebaut und Vocals hinzugefügt. Wir suchten nach etwas, das die Höhen füllt, und dafür habe ich mich über die DAW-less-Community an [den Produzenten und Trompeter] Takuya Nakamara gewandt. Er schickte mir dieses wunderschöne, stark verhallte Stück, das er auf verschiedene Arten mit und ohne gedämpftes Horn gespielt hatte. Durch den Einsatz von Reverb, Delay und Flanger, das Gruppieren von Sounds in Bussen und die Komprimierung als Ganzes kann man alles betonen und zusammenbringen. Die gesamte Session wurde in Ableton übertragen, und ich habe mit der MPC neue Drums aufgenommen und alles zu dem zusammengestellt, was man heute hört.
Neigst du angesichts der Komplexität deines Sounds dazu, Tracks schon zu mischen, während du noch an ihnen arbeitest, oder wäre diese Art der Konzentration bei dir fehl am Platze?
Ich wünschte, ich könnte am Schluss abmischen, aber warten nervt mich. Wenn also ein Sound heraussticht, greife ich ihn auf und versuche, das Beste aus ihm herauszuholen. Ich habe Freunde, die sagen, dass ich das Gefühl eines Tracks durcheinander bringe oder dass man die Zeit besser damit verbringen könnte, eine Idee weiter auszuarbeiten oder zu erweitern, aber ich bewege mich gerne auf die Ziellinie zu und mache Platz für andere Dinge. Ich denke, es hilft, einer Session einen Zweck zu geben. Wenn ich also eine Session habe, die nur dem Sounddesign dient, dann ist nichts zwangsläufig eine schlechte Aufnahme, denn man kann ein Quellsignal nehmen und Effektketten und Racks verwenden, um mehrere Instanzen von Modulatoren und Automation bereitzustellen. Insofern ist es für mich egal, ob ich eine verzerrte Stimme oder eine Melodie aufnehme, denn ich kann das Ganze durch eine Effektkette schicken, es sampeln, zerschneiden, bearbeiten und neu aufnehmen.
Text und Interview: Danny Turner
Photos Eigentum von Sam Siegel