Half Waif: Raum für Kreativität schaffen
Half Waif ist der Sound eines kreativen Geistes, der ständig nach Balance sucht – personifiziert durch die New Yorker Künstlerin Nandi Rose. Sie macht bittersüße Musik an den Grenzen zwischen hell und dunkel, analog und digital. Dabei thematisiert sie das Spannungsfeld zwischen Alleinsein und Gemeinschaft. Ihre Musik vereint feinfühliges Songwriting, spielerische Klangforschung und eine gewisse Unerschrockenheit, und mit diesen Eigenschaften steht sie in der Tradition von Kate Bush und James Blake.
Vielleicht haben Sie die Pitchfork-Review über Half Waifs letztes Album Lavender, gelesen – „Eine schwindelerregende Dynamik, die uns wegschiebt und gleichzeitig in die Musik hineinzieht“ – oder ihr Tiny Desk Concert gesehen, bei dem ihr sehnsuchtsvoller Gesang von vier anderen Multi-Instrumentalist:innen begleitet wird. Half Waif war schon mit Iron & Wine und Alex G auf Tour und hat mittlerweile drei Alben veröffentlicht. Doch damit ist noch lange nicht alles gesagt.
Anlässlich der Veröffentlichung ihres vierten Albums The Caretaker haben wir Half Waif interviewt und ihre kreative Arbeitsweise erforscht.
Was bedeutet The Caretaker?
Während der Arbeit an diesem Album hatte ich damit zu kämpfen, dass sich manche Freundschaften wandelten und in die Brüche gingen. Ich musste herausfinden, warum das passierte, denn es fühlte sich wie ein Versagen an. Es ist sehr schmerzhaft, wenn du nicht für die wichtigen Leute in deinem Leben da sein kannst – egal aus welchem Grund. Ich blickte in mich hinein und entdeckte dort viel Zusammenbruch und wenig Selbstwertgefühl. Obwohl ich den Begriff „Eigenliebe“ nicht mag, stellte ich einen echten Mangel daran fest.
Bei diesem Album wurde mir klar, dass es viel Mut und eine wahre Eigenliebe braucht, um für andere und unseren schönen Planeten eine gute „Caretakerin“ zu sein. Wenn wir uns um die wichtigen und geliebten Dinge in unserem Leben kümmern wollen, müssen wir auch ein gewisses Maß an innerer Arbeit leisten.
Wie ist The Caretaker entstanden?
Für diese Platte wollte ich mir sehr viel Zeit nehmen. Meine früheren Alben habe ich unterwegs und stückchenweise komponiert – in Autos, Tourbussen oder Backstage. Doch bei diesem Album traf ich die bewusste Entscheidung, zu Hause zu sein. Ich wollte viel Material komponieren, egal ob vieles davon schlecht sein würde. Und es fühlte sich wie Luxus an, die Zeit und auch den physischen Raum dafür zu haben.
Ich befinde mich gerade in dem Raum, in dem ich das Album komponiert habe: mein kleines Musikzimmer in unserem Haus in Chatham/New York. Seit einem Jahr war ich nicht mehr auf Tour, und davor hatte ich auch nur wenige Gigs. Das wollte ich für das Album nutzen und lieber den Kompositionen viel Aufmerksamkeit schenken, als mich in diesen Schwall der Inspiration zu begeben. Warum nicht mal methodisch an die Sache rangehen? Was wird wohl passieren, wenn ich jeden Tag in diesem Raum wäre? Und versuchen würde, mich auf anderen Wegen inspirieren zu lassen und andere Ansätze für das Songwriting auszuprobieren? Als Konsequenz davon war meine Arbeitsweise ziemlich unterschiedlich.
Bei dieser Platte geht es oft um die Suche nach der Balance zwischen Isolation und Gemeinschaft. Der Umzug hierher war in vielerlei Hinsicht großartig für mich, weil ich mich hier wirklich wie zu Hause fühle. Ich liebe es, von Natur umgeben zu sein, das gibt mir viel Raum zum Komponieren. Gleichzeitig ist es aber auch sehr isolierend, in einer kleinen Stadt zu leben und Solokünstlerin zu sein, nachdem ich jahrelang mit einer Band aktiv war. An diesem Punkt wurde meine Musik wieder zu einem Solokonzert ohne Band.
Mit diesem Album habe ich diese Balance erforscht – zwischen dem Platz schaffen für sich selbst und dem Genießen des Alleinseins, das produktiv macht. Und der Erkenntnis, dass ich damit auch ein wenig zu weit gehen kann. Zu viel Gutes kann durch auch etwas Schlechtes sein. Um diese Räume des Alleinseins richtig genießen zu können, ist ein Kontrapunkt notwendig – man muss lernen, dem Wunsch nach Interaktion mit Anderen zu widerstehen. Nach dieser Balance für mein Leben suche ich gerade.
Welche Songs waren am einfachsten zu komponieren? Und welche am schwierigsten?
„Brace“ und „Generation“ – zwei traditionelle Songs mit Keyboard und Piano. Ich habe sie in einem Rutsch aufgenommen. Sie haben sich gewissermaßen selbst komponiert, mit mir am Keyboard. Die Lyrics und Akkorde sind gleichzeitig entstanden. Es gab aber auch andere Songs, die mich vor große Herausforderungen stellten.
Der Song „Siren“ war eine harte Nuss für mich. Ich hatte zwar diesen tollen Beat und der Refrain entstand wie von selbst, aber ich dachte: „OK, aber wo führt das hin?“. Eine gute Bridge und einen guten Schluss zu finden – das war wirklich Arbeit. Am Ende habe ich hier meine erste Modulation durchgeführt [lacht]. Ich fragte mich: „Wie wird dieser Song enden? Und sollte ich nicht lieber mit einer Modulation starten, anstelle eines normalen Intros?“ Kein „Wie fangen wir an?“, sondern: Wir gehen einfach hin.
Der Song klingt wie eine Power-Ballade – er erinnert mich an Céline Dion oder Mariah Carey.
Finde ich auch. Das ist das Schöne daran, wenn man älter und erfahrener wird: Ich mache mir weniger Sorgen darum, ob etwas cool klingt. Lieber probiere ich etwas aus und habe Freude daran. Früher hätte ich bestimmt gedacht, dass dieser Song zu kitschig oder albern ist. Doch heute denke ich: „Das klingt super“. Und ich habe auch den Mut, das so und nicht anders zu machen. Ich fand, dass es Zeit war – für eine Modulation.
Mir die Zeit dafür zu nehmen war eine gute Übung – ich habe Songwriting-Techniken genutzt, die ich noch nicht kannte, und meine Lieblingsmusik analysiert. Beim Komponieren habe ich mich gefragt: „Warum mag ich diesen Song? Und warum klingt dieser Songteil so gut?“. Dann habe ich meine Erkenntnisse auf eigene Songs angewendet.
Welche Musik hast du damals gehört und wie hat sie deine Platte beeinflusst?
Ein großer Einfluss war und ist für mich die Musik von Frank Ocean. Blond hat mich – und bestimmt auch viele andere Songwriter meiner Generation – stark beeindruckt, weil Ocean sich dort fließend durch die Genres bewegt. Diese Zuversicht beim Ausprobieren von Dingen, von denen man nicht unbedingt denken würde, dass sie in einen Song passen – aber am Ende funktionieren sie doch.
Auch Alex G ist jemand, der das kann. Wir sind gute Freunde und waren auch gemeinsam auf Tour. Sein spielerischer Umgang mit Genres begeistert mich – und seine Klangforschungen, die wie ein selbstverständlicher Teil seiner Welt wirken. Man denkt nicht: „Alex G versucht sich an einem Country-Song“, sondern: „Oh, das ist Alex G – mit einem Country-Song!“. Seine Musik wirkt nie bemüht, und das sagt viel über seine spielerische Herangehensweise und den Mut, mit dem er neue Dinge ausprobiert. Er scheut sich nicht, einem Song das zu geben, was er braucht: Wenn ein Song nach einer Geige fragt, dann bekommt er sie auch. Es spielt keine Rolle, ob man noch nie eine Geige in einem Song verwendet hat oder nicht die Art von Künstler:in ist, welche:r eine Geige besitzt.
Die Songs sind alles. Und was sie brauchen, hat Vorrang vor deiner Selbstwahrnehmung. Der Song „Blinking Light“ ist ein gutes Beispiel dafür: Ich dachte schon von Anfang an, dass das ein klassischer Rocksong werden wird. Früher hätte ich wahrscheinlich gedacht: „Das bin nicht ich, sondern Pinegrove“ – die Band, in der ich damals spielte. Zu ihnen würde sowas passen, aber nicht zu mir. Doch weil ich älter und auch aufgeschlossener geworden bin, wollte ich einfach wissen, was ich aus diesem Song machen kann. Es gibt darin dieses seltsame Gitarren-Sample, das man zuerst gar nicht bemerkt. Aber ich fand es passend und ließ es drin.
„Lapsing“ ist von Nils Frahm inspiriert, dessen Musik ich in dieser Zeit oft gehört habe. Ich mag seinen ökonomischen Umgang mit Sounds und seine Fähigkeit, aus einem einzigen Instrument eine große klangliche Bandbreite herauszuholen. In „Lapsing“ habe ich zweimal das Plug-in TAL U-No-LX verwendet, das den Juno 60 emuliert, und improvisiert. Ich sagte mir: „Ich habe noch nie eine Modulation gemacht, geschweige denn ein Instrumental: Warum gebe ich mir nicht einen Ruck und versuche das mal? Ich verstehe mein Handwerk und habe auch den Hang zum Perfektionismus.“ Also habe ich den Synth-Part aufgenommen und dann die Automation performt. Dann ging ich einen Schritt zurück und machte die Spur erneut aufnahmebereit, um mit den Synth-Parametern zu performen und Filter zu öffnen. So habe ich diesen Pitch-Warble-Effekt erzeugt. Das Filter beeinflusste die Tonhöhe und bildete den Sound von sommerlichen Insekten nach, den ich zum Spaß noch gelayert habe. Die Tonhöhenschwankungen des Synths klangen dann wie das nächtliche Zirpen von Insekten.
Deine Songs transportieren viele Emotionen – sie sind kurz, und ihre Teile kontrastieren stark. Wie bekommst du das hin?
Was ich über das Songwriting gelernt habe: Jeder Songteil muss spannend sein. Wenn du den Refrain toll und den Vers nur okay findest, solltest du den Vers neu machen – damit du ihn genauso spannend findest wie den Refrain. Ich wollte, dass jeder Teil toll klingt, und nicht nur durch den Vers hetzen, um zu dem großartigen Refrain zu gelangen.
Die Kürze der Songs hat auch mit einer ganz normalen Unruhe zu tun. Ich liebe das Komponieren, und wenn ein Song fertig ist, will ich sofort den nächsten in Angriff nehmen. Ich denke auch, dass kurze Songs dazu einladen, nochmal gehört zu werden. Die Hörer fragen sich: „Was war denn das? Das will ich gleich nochmal hören“ – hoffe ich zumindest.
Mein neues Mantra, das ich irgendwo aufgeschnappt habe: „Je mehr du schaust, desto mehr siehst du auch“. Ich mag die Idee, dass Musik ganz ähnlich funktioniert: Wenn sie dir schon beim ersten Hören etwas gibt, aber dich beim erneuten Hören noch mehr fesselt. Dann findest du neue Kostbarkeiten. So funktioniert die Musik, die ich am liebsten höre, und ich hoffe, dass mir dies auch mit meiner eigenen Musik gelingt.
Wer war sonst noch an der Produktion des Albums beteiligt?
David Tolomei – ein kalifornischer Produzent und Mix-Engineer. Er hat Lavender gemixt, und ich hatte schon in der Demo-Phase von The Caretaker ein Gespräch mit ihm: „Ich wünsche mir, dass du diesmal schon früher dabei bist und mir dabei hilfst, diese Welt konkreter und die Sounds klarer zu machen“.
Ich nahm mir vor, in ein Studio zu gehen und manche meiner MIDI-Sounds zu ersetzen, um dieses Album rund zu machen. Also gingen wir in das Clubhouse Studio in Rhinebeck/New York und nahmen akustische Instrumente auf: Kontrabass, Violine, Bassklarinette und Flöte. So haben wir meine MIDI-Parts durch Klänge von anderen Musiker:innen zum Leben erweckt.
Außerdem haben wir im Synth Sanctuary in New York City aufgenommen – ein unglaublicher Ort mit wunderschönen analogen Synths, die wir mehrere Tage nutzen konnten, um meine Songideen weiterzuentwickeln. Oberheim, Juno, Prophet – viele Klassiker, auf die ich sonst keinen Zugriff habe. Auf der Platte gibt es zwar immer noch MIDI-Flöten und viele Software-Synths, aber dadurch wird das Ganze auch zu einer dreidimensionalen Angelegenheit.
Anschließend hat David das Album in Kalifornien gemixt. Ich besuchte ihn für ein paar Tage, um gemeinsam mit ihm herauszufinden, welche Art von Effekten wir einsetzen wollten. Im Vergleich zu meinen Demos klingt das Album wie eine glänzendere und bessere Version. Und deswegen bin ich sehr stolz auf meine Entwicklung als Produzentin.
Ich habe viel über den Begriff „Produzentin“ gelernt – zum Beispiel, dass es ein kreatives Produzieren und ein technisches Produzieren gibt. Ich liebe es, mit Klängen zu spielen, will aber nicht zu viel darüber nachdenken, wie das alles technisch funktioniert. Zu dieser Aussage stehe ich – sie ist mir nicht mehr peinlich. Früher dachte ich: „Weil ich eine Frau bin, muss ich alles selbst machen, sonst nimmt mich niemand ernst.“ Heute bin ich sehr stolz auf meine Arbeit als Komponistin und Produzentin. Ich mache Mix-Skizzen, um ein Gefühl für die automatisierten Details und den Platz der Sounds im Mix zu bekommen. Und wenn mir jemand anders dann bei den technischen Aspekten hilft, ist das völlig in Ordnung. Es war einfach schön, jemanden zu finden, mit dem ich mich ergänze, und der auf diese Weise mit mir zusammen produzieren konnte.
Wie setzt du deine Stimme ein? Und wie nimmst du sie auf? Wie sah eure Arbeitsweise bei den Vocals aus?
Ich habe mir dafür Davids Equipment ausgeliehen. Meine Vocals nehme ich am liebsten alleine auf – ich mag es nicht, wenn andere Leute dabei sind. Früher habe ich versucht, die Vocals in einem Studio aufzunehmen, und das funktionierte gedanklich einfach nicht. Es geht viel schneller, wenn ich beim Aufnehmen die DAW laufen lassen kann. Dann kann ich sagen: „Nee, das war nichts – ich gehe nochmal zurück zu dieser Position“. Anstatt: „Kannst du bitte nochmal zwei Takte zurückgehen?“ – „OK“ – und dann wird eingezählt. Das wirft mich komplett raus. Ich muss die Kontrolle haben und in der passenden Stimmung sein. Außerdem nehme ich meine Vocals am liebsten im Dunkeln auf. Es ist anstrengend, sich immer wieder selbst zu hören, und deswegen will ich niemanden dabeihaben.
Von David hatte ich das tolle Neumann U87 und ein Hilo Audio-Interface. Und das ist der Punkt: Ich kenne mich mit Equipment gar nicht so gut aus. Früher hätte ich mich dafür geschämt, und heute denke ich: „Kein Problem – immerhin habe ich meinen Gesang selbst aufgenommen“.
Meine Stimme ist mein Hauptinstrument – das Instrument, über das ich die meiste Kontrolle habe. Ich kann ihm jede Menge Sounds entlocken. Meine Stimme ist auch das Instrument, mit dem ich Songs komponiere – wenn ich eine flauschige Fläche brauche und nicht nach einem passenden Software-Synth suchen will. Oder gerade nicht zum Korg Minilogue greifen will – selbst wenn ich ihn trotzdem oft nutze. Ich nehme einfach Vocals auf und bearbeite sie mit Effekten, weil ich weiß: Dieses Tool ist für mich am schnellsten verfügbar.
Bei jedem Song gibt es eine oder mehrere Spuren, die ich „Mutanten“ nenne – seltsam bearbeitete Vocals, mit Pitch-Shifting oder Grain Delay. Diese Effekte nutze ich oft. Der Spray-Parameter ist so cool, ich wende ihn auf Vocals und Synth-Sounds an. Bei allen meinen Songs gibt es Vocals, die damit bearbeitet sind. Für mich ist das ein ausdrucksvolles Instrument und das Tool, mit dem ich mich am wohlsten fühle.
Bei deinen früheren Platten hast du viel experimentiert und deine Musik weiterentwickelt. Gibt es trotzdem Elemente, die typisch für Half Waif sind: Signature-Sounds und klangliche Vorlieben?
Das Zusammenspiel von Dur- und Mollakkorden – das habe ich immer gemacht und werde es wahrscheinlich auch weiterhin machen. Akkordfolgen, die durch diese Tonalitäten schweben, mag ich einfach am meisten. Im Allgemeinen nutze ich inzwischen ungewöhnlichere Akkordfolgen, die sich wirklich mit der Stimmung der Vocals verbinden. Ich nutze seltsame Akkorde nicht ohne Grund: Wenn der emotionale Impuls in diese Richtung geht, folge ich ihm einfach. Und manchmal führt das dann zu ungewöhnlichen Akkordfolgen oder Bewegungen zwischen den einzelnen Songteilen.
Normalerweise nutze ich viele Layer und Kombinationen von Software-Synths und elektronische Klangerzeuger mit akustischen und organischen Texturen. Das habe ich immer gemacht und werde es auch weiterhin tun, aber ich will das noch verfeinern. Es geht immer darum, die Klänge mit Bedacht zu verwenden: Wie viel lässt sich mit nur wenigen Sounds sagen? Auf dieses Ziel arbeite ich hin.
The Caretaker ist am 27. März erschienen. Folgen Sie Half Waif auf Bandcamp, Instagram und Twitter.
Text und Interview: Erin Barra