Grimes: 808, Vogelstimmen und Dentalbohrer
Seit 2009 produziert Claire Boucher alias Grimes ihre markante elektronische Musik und zieht damit ein stetig wachsendes Publikum an: Indie-Hörer wie Anhänger von anspruchsvollem Pop. Mit hochgeschätzten Alben – zuletzt Visions und Art Angels – und Single-Releases hat Grimes einen persönlichen Stil etabliert, der durch außergewöhnliche Vocals, exzellentes Songwriting und eine vielschichtige, mitreißende Produktionsweise gekennzeichnet ist. Diese Kombination brachte der Künstlerin Millionen an Klicks für ihre Musikvideos auf YouTube, mehrere Headliner-Tourneen und Primetime-Auftritte bei großen Festivals wie Glastonbury und Coachella ein.
Grimes’ Weg zum Erfolg war auf bewundernswerte Weise selbstbestimmt. Ihre entschieden unabhängige Haltung als Komponistin und Produzentin der eigenen Musik trägt dazu bei, ein überkommenes Rollenklischee zu kippen: Die Performerin steht im Rampenlicht und ein männliches Mastermind zieht im Hintergrund die Fäden. Mit diesem Vorwissen freuten wir uns umso mehr, mit Claire Boucher über ihre Produktionstechniken, den Ursprung ihrer Sounds und die Umsetzung ihrer Studioproduktionen für die Live-Performance zu sprechen.
Skizzierst du Songs zuerst am Klavier oder an der Gitarre, bevor du die Klangpalette zusammenstellst und die Instrumente und Vocals aufnimmst? Oder sind Songwriting und Produktion miteinander verwoben?
Eher zweiteres – für mich sind Songwriting und Produktion eine Einheit. Ich produziere beim Komponieren.
Wie entwickelst du Beats – mit Pads oder Maus/Trackpad?
Mit beidem – ich nutze einen Akai MPC und einen Keyboard-MIDI-Controller, manchmal entwickle ich meine Beats aber auch manuell. Ich stelle gerne Sample-Packs zusammen, die ich dann meist für die Drums nutze. Oft sind es kombinierte Drum-Sounds (etwa die Höhen einer realen Kick-Drum und die Tiefen einer digitalen Kick-Drum). Sobald ich eine gute Kombination gefunden habe, mache ich häufig davon Gebrauch. Ich nutze auch gerne Sample-Packs, die mein Freund Bloodpop entwickelt oder angeschafft hat. Normalerweise beginne ich mit Kick- und Snare-Drum und entwickle den Beat dann von dort aus weiter.
Wie wir gehört haben, machst du dir viele Gedanken über das richtige Songtempo. Probierst du bei jedem Song verschiedene Geschwindigkeiten aus?
Das Songtempo ist für mich ein entscheidender Faktor. Ein schnelles Tempo kann toll sein, doch dann muss ich die Drums vereinfachen. Ein langsames Tempo kann toll sein, doch dann muss ich den Groove wirklich perfekt machen. Darüber mache ich mir tatsächlich viele Gedanken.
Wie gehst du das Sound Design allgemein an – achtest du auf interessante Sounds in deiner Umgebung? Wie fängst du diese Sounds ein und was wird dann daraus?
Ich bin immer auf der Suche nach interessanten Sounds. Neulich habe ich Percussion gesampelt, die sehr melodisch war. Dann habe ich den Hall auf 100 % gestellt und aufgenommen – vom ursprünglichen Sample blieb nichts mehr übrig, aber die Aufnahme enthielt die melodische Information. Manchmal nehme ich zuhause Objekte auf – Glasperlen oder Ähnliches – oder entdecke Field Recordings von Ornithologen aus aller Welt. In den meisten Fällen kombiniere ich diese Methoden.
Für den Song „Venus Fly“ hatte ich beispielsweise diese tollen 808-Sounds, die aus zwei verschiedenen 808-Sounds entstanden sind. Dann sampelte ich einen Dentalbohrer, passte die Tonhöhe an die 808s an und legte das Sample dezent darüber, um den Beat etwas wilder klingen zu lassen – gleichzeitig breit und clean, denn ich habe den Bohrer im Panorama weit nach außen gemixt und die 808s mono in die Mitte gelegt.
In den meisten Grimes-Tracks passiert ziemlich viel – wie behältsts du beim Produzieren die Übersicht über alle Elemente?
Meine Dateien sind ziemlich chaotisch – in letzter Zeit versuche ich, organisierter und kontrollierter damit umzugehen. Ich arbeite viel mit Layering, daher wird die Sache schnell kompliziert und ich fahre die Dateien oft gegen die Wand.
Wie entscheidest du, ob ein Stück abgeschlossen ist? Verfolgst du die Strategie „Hinzufügen, bis das Bild fertig ist“ oder „Reduzieren bis aufs Wesentliche“?
Ich verfolge eher die Strategie „Reduzieren bis aufs Wesentliche“ – die Live-Versionen meiner Songs sind für mich dann die besten, weil ich die gemixten Stems zurückbekomme und viele neue Sounds hinzufüge. Normalerweise setze ich mir selbst Deadlines. Bei den meisten meiner veröffentlichten Tracks hätte ich im Nachhinein gerne viel mehr gemacht.
„Dann sampelte ich einen Dentalbohrer, passte die Tonhöhe an die 808s an und legte das Sample dezent darüber, um den Beat etwas wilder klingen zu lassen...“
Wie deinem tumblr-Profil zu entnehmen ist, sind deine musikalischen Vorlieben sehr breitgefächert. Gibt es bestimmte Aspekte der Produktion, die du bei deinen Lieblingskünstlern besonders schätzt oder in eigenen Produktionen gerne vertiefen würdest?
Ich mag die Produktion von Lana Del Reys neuem Album „Honeymoon“, insbesondere den Song „Art Deco“ – er klingt gleichzeitig alt und neu. „BBHMM“ von Rihanna finde ich ebenfalls super. Die beiden können unwiderstehliche Popsongs mit viel Hall auf den Vocals produzieren. Ich finde Vocals ohne Reverb schrecklich, doch für viele Leute scheint das die Grundbedingung für solide Popsongs zu sein.
Das Sound Design von A-Bee mag ich auch sehr gerne – es erinnert mich an ASMR-Videos. Ich würde gerne mehr über alte Mikrofone und die verschiedenen Arten von Mikros wissen. Wie bei den alten Platten von Patsy Cline – diese organische Verzerrung lässt sich digital einfach nicht nachbilden.
Wie bringst du deine Studio-Produktionen auf die Bühne? Und wie weist du die Song-Parts den Musikern deiner Live-Band zu?
Zur Zeit bin ich mit HANA auf Tour – einer tollen Multi-Instrumentalistin und Sängerin. Sie hat in letzter Zeit viel zu meiner Musik beigetragen und Elemente eingebracht, die zuvor nur ein Sample waren, etwa eine Lead-Gitarre. Wir jammen auch oft im Tourbus oder in Hotels, entwickeln mehrstimmige Vocals und Ähnliches. Diese musikalische Wechselbeziehung ist für mich auf der Bühne sehr wichtig geworden.
Meine Skills gehen eher in Richtung DJ – ich bin schüchtern, habe kein klassisches Instrument gelernt, aber mit Computern kenne ich mich bestens aus. Deshalb entwickeln wir Tricks, die das Performen für mich leichter machen, etwa eine offene Stimmung für die Gitarre. Es kommt vor, dass ich erkältet bin und nicht schreien kann – dann drehen wir das Mikro zu den Monitor-Boxen, um einen ähnlichen Effekt zu erzielen.
Neben Gitarre und Ableton verwende ich auf der Bühne zwei SP 404. HANA nutzt ein Drum-Pad für Fills und andere Elemente. Normalerweise reproduziere ich die Songs bis zu einem gewissen Grad. Inzwischen beginnen wir damit, Fußpedale und Ähnliches zu verwenden, während mein Tontechniker Patrick Scott bestimmte Elemente vom FOH-Mixer aus automatisiert – etwa Vocals oder Gitarreneffekte. Zusätzlich nutze ich häufig ein Vocal-Pedal / einen Looper (TC Helicon), um zwischen trockenen Pop-Vocals und verhallten Drone-Sounds für Screamo-Momente zu wechseln.
Bleiben Sie bei Grimes über Tumblr, Soundcloud und ihre Website auf dem Laufenden.
Bonus-Track: Sehen Sie eine Mini-Doku über die Entstehung des aktuellen Grimes-Albums „Art Angels“.