Zusammen spielen: Musikalische Kollaborationen im Wandel
Im Schrank
âUnd du, Trace? Kannst du singen?â Das Setting: Ein Teenager-Zimmer im England des Jahres 1979. Eine Band mit dem Namen âThe Stern Bopsâ probt, genauer: Sie wĂŒrde proben, wĂ€re der SĂ€nger aufgetaucht. In Ermangelung besserer Alternativen soll Trace einspringen, die Rhythmus-Gitarristin. Sie bejaht die Frage â ob sie damit recht hat, weiĂ sie aber nicht. Kann sie singen? Das kommt auf die Definition an. Fest steht: Sie singt. Oder, besser gesagt, sie schreit gelegentlich in ihrem Zimmer zu Platten mit. Aber eben nicht vor Publikum.
Sie erklĂ€rt sich dazu bereit, stellt aber eine Bedingung: Sie will im Schrank singen. Die Band willigt ein, und die Probe geht weiter. Die Gruppe spielt in einem losen Kreis, Tracy Thorns Vocals dringen aus dem Schrank in der Ecke. Am Ende wird sie nicht als SĂ€ngerin ĂŒbernommen, ist darĂŒber aber erleichtert. âIch wusste nicht, ob ich das vor einem Publikum könnteâ, sagt Thorn, die sich in ihren 2013 erschienenen Memoiren Bedsit Disco Queen an ihr DebĂŒt als SĂ€ngerin erinnert. âWir hĂ€tten ja wohl kaum den Schrank mitnehmen können.â Einige Jahre spĂ€ter ist Thorn eine HĂ€lfte von Everything But the Girl, noch spĂ€ter schenkt sie ihre Vocals der Band Massive Attack fĂŒr deren Klassiker âProtectionâ. Sie gewöhnt sich daran, in verschiedensten Situationen vor Menschen zu singen â vor Musiker:innen, Produzent:innen und Techniker:innen. In jenem Moment im Jahre 1979 jedoch erschien ihr die Vorstellung, etwas vor den Augen Anderer auszuprobieren, unertrĂ€glich.
Auch im 21. Jahrhundert ist das physische Miteinander sowas wie ein Standard, wenn es um musikalische Kollaborationen geht, und wird mitunter auch zum Ideal verklĂ€rt. So und nicht anders soll es laufen: Menschen spielen gemeinsam in einem Raum, schauen einander in die Augen, schaffen zusammen Musik. Thorns Geschichte ĂŒber die SĂ€ngerin im Schrank dient jedoch als LehrstĂŒck, dass diese Art des Schaffens nicht allen Menschen gleichermaĂen liegt. In Gruppen zu musizieren ist ein sozialer Prozess â das kann viel Freude bereiten, je nach GemĂŒtslage und persönlichen Neigungen aber auch unangenehm sein. Und was ist mit den Menschen, die Musik machen wollen, sich aber in sozialen Situationen einfach nicht besonders wohl fĂŒhlen?
Die naheliegendste Lösung besteht natĂŒrlich darin, sich eine DAW und ein paar Sound-Packs zu installieren und alleine zu arbeiten. Zur Zeit, als Tracy noch im Schrank sang, lagen derartige Möglichkeiten jedoch noch in weiter Ferne. Nahezu jede Art der PopulĂ€rmusik war darauf angewiesen, dass Menschen physisch gemeinsam arbeiteten, mehr oder weniger in Echtzeit. Heute werden derartige Situationen gerne idealisiert, fĂŒr manche Musiker:innen waren sie jedoch ein Albtraum.Â
Gegen Kollaboration
âIch habe in der High School mit dem ganzen Gitarren-Band-Ding angefangenâ, erzĂ€hlte Produzentin und Fernseh-Komponistin Bev Stanton im Jahr 2010. âWir hatten es so viel mit dysfunktionalen Leuten zu tun, dass wir irgendwann merkten, es macht einfach mehr Sinn, verstĂ€rkt mit Maschinen zu arbeiten. So gibtâs einfach weniger Drama.â Stanton hatte genug von den anstrengenden interpersonellen VerhĂ€ltnissen und Verstrickungen, die die Bandkultur zwangsweise mit sich zu bringen schien. Elektronische Musik bot ihr erstmals die Gelegenheit, nicht zu kollaborieren â eine Chance, die sie sofort ausnutzte.
Ăhnliches berichtete der israelische Film-Komponist Yair Elazar Glotman 2017 in einem Interview mit Straylandings. âIch war frustriert von meinem Dasein als Bassist, und davon, von anderen Musiker:innen abhĂ€ngig zu sein, wenn ich mich selbst ausdrĂŒcken wollteâ, erklĂ€rt er. âIn dieser Hinsicht ist elektronische Musik sehr befreiend.â Stanton und Glotman hatten die Wahl, Bands hinter sich zu lassen â eine Wahl, die Thorn verwehrt war. Die jĂŒngeren KĂŒnstler:innen wuchsen in einer Welt auf, in der Studio-Equipment immer gĂŒnstiger und allgemein verfĂŒgbarer wurde, und in der es möglich â und irgendwann selbstverstĂ€ndlich â war, Musik mit dem Computer zu machen.
Im Laufe des Lebens dieser KĂŒnstler:innen entwickelten sich die Möglichkeiten der Solo-Musikproduktion rasant weiter: WĂ€hrend einst nur eine Handvoll wohlhabender Ausnahmeerscheinungen wie Todd Rundgren oder Prince ihre eigene Musik aufnehmen konnten, war dies irgendwann jedem:jeder AnfĂ€nger:in mit einem Laptop möglich. Gemeinsam an einem Ort zu musizieren wurde im Zuge dieser Entwicklung zunehmend zu einem optionalen Extra. Warum schlieĂlich sollten Musiker:innen, die das gemeinsame Musikmachen, wie Stanton, immer als frustrierend erlebt hatten â oder, wie Glotmann, als limitierend â, noch daran festhalten?
Ein zentraler Aspekt des jĂŒngeren Trends hin zur Kollaboration ist, dass letztere heute auf Freiwilligkeit beruht. Dass niemand mehr darauf angewiesen ist, erzeugt eine Aura der Coolness â vergleichbar mit dem PhĂ€nomen, dass Berge erst dann als âmajestĂ€tisch und erhabenâ zu galten begannen, nachdem man herausgefunden hatte, wie man sie mit StraĂen und Tunneln umgeht.Â
Das Huhn oder das Ei?
Doch wie sind wir hier eigentlich gelandet? Haben Menschen angefangen, alleine Musik zu machen, weil sie es dank Computern und DAWs eben konnten? Oder war es andersherum? Wir gehen ganz selbstverstÀndlich davon aus, dass etwa bestimmte Musikgenres entstanden, weil irgendein (elektronisches) Instrument erfunden wurde, oder dass die Musikkultur sich weiterentwickelt hat, weil die Technologie den Weg geebnet hat. Dabei entspricht das nicht ganz der Wahrheit.
Entgegen aller GlaubenssĂ€tze der Techno-Deterministen handelt es sich bei der Technologie nicht einfach um eine blindwĂŒtige Kraft, die Musikschaffende dahin treibt, Dinge gegen ihren eigenen Willen zu tun. Wie der Musiker und KĂŒnstler Nicolas Makelberge in seinem 2012 erschienenen Essay âRethinking Collaboration in Networked Musicâ argumentiert, greifen unsere WĂŒnsche und die Entwicklung neuer Tools ineinander â Menschen erfinden Dinge, weil sie wollen, dass sie existieren, oder um anderen zuvorzukommen â und ihre Erfindungen sind nur in dem MaĂe erfolgreich, in dem sie von Anderen begehrt oder als nĂŒtzlich empfunden werden. Aus dieser Perspektive betrachtet spiegelt die Entwicklung der Musiktechnologie â von der Erfindung der Laute bis hin zur MPC und darĂŒber hinaus â ein menschheitsĂŒbergreifendes BedĂŒrfnis wider, mehr Sound mit weniger Menschen zu erzeugen. Anders ausgedrĂŒckt: Wir wollten Autonomie und wir haben sie bekommen.
Das heiĂt nicht, dass die Technologie keinen Einfluss auf die Kunst hatte, oder dass Menschen nicht anders arbeiten und handeln, wenn ihnen neue Werkzeuge zur VerfĂŒgung stehen. Wir sollten nur dahin kommen, die Werkzeuge selbst als Produkte menschlichen Handelns zu begreifen, statt als ahistorische KrĂ€fte, die die Formen kĂŒnstlerischen Schaffens immer schon im Vorhinein festlegen. âIch habe ein lang bestehendes BedĂŒrfnis erfundenâ, sagte der Mode-Pionier Bill Green 1971 zu Nik Cohn. Er sprach ĂŒber Hosen, die Aussage hĂ€tte jedoch ebenso zum Erfinder des Arpeggiatores gepasst oder zur Entwicklerin einer App zur Beatproduktion.
Musikschaffende wollten also Autonomie, und langsam aber sicher sorgten Instrumenten- und Software-Entwickler:innen dafĂŒr, dass sie sie auch bekamen. Doch selbst unter der Annahme, dass damit ein kollektiver Wunsch erfĂŒllt wurde, kann das Ergebnis reumĂŒtig stimmen. Haben wir unsere UnabhĂ€ngigkeit auf Kosten der Verbindung zu anderen Menschen erkĂ€mpft?
Nehmen wir etwa die Tanzmusik: Um gute Musik zu machen, brauchte man Mitte der 70er noch mindestens eine vierköpfige Band, einen Session-Percussionisten, eine Horn-Sektion, Background-SĂ€nger:innen, eine:n Produzent:in, eine:n Tontechniker:in und jemanden von der Firma, die den Synth gebaut hat, um das GerĂ€t ĂŒberhaupt einzuschalten. Wie auch immer man dazu stehen mag, es handelte sich hier um eine höchst soziale Angelegenheit. All das kann heute (mehr oder weniger) von einer einzigen Person mit Internetzugang erreicht werden, die Live auf ihrem Laptop laufen hat. Die meisten von uns haben davon zweifellos profitiert, und dennoch erscheint die Entwicklung ein wenig verstörend. Wo sind auf einmal alle hin? Ist es ein Problem, dass wir uns nicht mehr treffen? Heruntergebrochen ausgedrĂŒckt: Hat die musikalische Autonomie uns einsam gemacht?
Die drei Ks
Wenn es nach Nicolas Makelberge geht, sind Geschichten ĂŒber den Tod des Soziallebens von Musikproduzent:innen ĂŒberzogen. Die Tatsache, dass wir nicht mehr darauf angewiesen sind, Bands zusammenzustellen oder Ensembles zu organisieren, Studios zu mieten und Tontechniker anzustellen, bedeutet noch lange nicht, dass Menschen nicht mehr gemeinsam musizieren wĂŒrden â tatsĂ€chlich ist das Gegenteil der Fall. Das gemeinsame Schaffen, so schreibt Makelberge, erfreut sich auch im 21. Jahrhundert noch groĂer Beliebtheit â wir brauchen nur prĂ€zisere Begriffe, um dessen Formen zu verstehen.
Makelberge teilt den generellen Begriff der Kollaboration in drei Kategorien, die er danach anordnet, wie reziprok sie sind, das heiĂt: wieviel Interaktion fĂŒr die Entstehung neuer Werke vonnöten ist. Dies ist nicht als eine Hierarchisierung zu verstehen â keine der Formen wird von ihm als einer anderen ĂŒberlegen dargestellt. Sie sind lediglich als qualitativ verschieden zu begreifen.
Kollaboration
Die reziprokste Art des gemeinsamen Musikschaffens ist nach Makelberge die Kollaboration: Wenn Menschen in Bands und Produktions-Partner:innenschaften arbeiten, in denen mindestens zwei Menschen vom Anfang bis zum Schluss daran beteiligt sind, ein MusikstĂŒck zu schaffen, und darin zumindest theoretisch gleich viele Anteile haben. Makelberge beschreibt den Prozess als eine âko-ordinierte und synchrone AktivitĂ€t, die wiederum das Resultat eines fortgefĂŒhrten Versuchs ist, eine gemeinsame Vorstellung von einem Problem zu schaffen und zu pflegen.â Dies entspricht zum Beispiel der Arbeitsweise von Stephen OâMalley, Serien-Kollaborateur und GrĂŒnder von Sunn 0))). âIch glaube, man kann Musik nur in der Kollaboration entdeckenâ, sagt er 2017 in einem Interview mit dem Creative Independent. âEs ist faszinierend, mit anderen Menschen zu versuchen ĂŒber etwas zu kommunizieren, zusammenzuarbeiten und gemeinsam etwas zu schaffen. Das ist aufregend. Ich wĂ€re ohne Kollaborationen vermutlich ĂŒberhaupt nicht in der Lage gewesen, irgendeine Musik zu machen.â
Wie OâMalley unter Beweis stellt, sobald jene âko-ordinierten und synchronenâ AktivitĂ€ten live und vor Publikum stattfinden, sind die EinsĂ€tze dabei höher und die Ergebnisse mitunter noch spannender. âEs gibt eine unbeschreibliche Synergie, die manchmal entsteht, wenn man mit jemandem spieltâ, sagt Cellistin und Komponistin Clarice Jensen ĂŒber ihre Live-Improvisation mit der koreanischen Beatproduzentin Sowall bei Loop 2018. âUnd wenn das dann jemand ist, den man ĂŒberhaupt nicht kennt, und mit dem man nicht mal eine gemeinsame Sprache teilt, dann ist das eine ziemlich abstrakte Angelegenheit, die man aber fĂŒhlen kann.â
Kooperation
âKooperationâ, schreibt Makelberge, âist eine AktivitĂ€t, bei der sich Partner:innen die Arbeit aufteilen, Unteraufgaben jeweils individuell erledigen und dann die partiellen Ergebnisse zu einer Arbeit zusammenfĂŒgen.â Auf diese Weise entstehen in der Regel Pop-Songs. Hier kommt zwar einem einzelnen Artist die Aufgabe zu, einen Hit zu produzieren, es sind jedoch viele andere Menschen involviert, die Parts schreiben, Instrumente spielen, Gast-Vocals beisteuern, die Tontechnik und das Mixing ĂŒbernehmen. âEs ist schockierendâ, so Produzent Stefan Johnson, âwieviel Zeit von so vielen verschiedenen Menschen in einen Song flieĂtâ. Johnson spricht von âThe Middleâ von Zedd, Maren Morris und Grey in NYTs âDiary of a Songâ. Nach seinem Partner Jordan Johnson ging es dabei einfach darum, dass âjede:r den Song so gut hinbekommen hat wie jede:r wusste, dass er nur irgendwie sein konnte.â
Die kooperative Herangehensweise funktioniert aber auch bei kleineren Projekten. Wenn wir als Produzent:innen gewĂŒnschte Elemente fĂŒr unsere Tracks nicht selbst hinbekommen, wenden wir uns hĂ€ufig an Freund:innen oder Bekannte, die das fehlende Element beisteuern können. Dabei kann es sich um einen instrumentalen Part handeln, um eine klangliche Optimierung, um Gast-Vocals, oder einfach Rohmaterial, mit dem wir arbeiten können. So zu arbeiten mag weniger reziprok sein, ist dabei aber nicht weniger lohnend. 2021 wurde Objekt eingeladen, einen Beitrag zum kommenden Album von Slikback zu leisten. âIch habe ihm die Spuren eines laufenden Projekts von mir geschickt, an dem ich schon ein Jahr saĂ und das ich zu diesem Zeitpunkt schon total verkocht hatteâ, schrieb Objekt in einer Instagram-Story. âDer Typ schickt es mir zurĂŒck und hat es einfach in ZEHN STUNDEN fertigbekommen⊠definitiv roher und energievoller und besser als ich das jemals hingekriegt hĂ€tte.â Objekt und Slikback mögen nicht gemeinsam an einem Monitor oder Mischpult gesessen oder im traditionellen Sinne gejammt haben â dennoch haben die beiden ihre Ideen und FĂ€higkeiten zusammengeworfen und dabei etwas geschaffen, was keiner der beiden alleine geschafft hĂ€tte.
âApexâ von Slikback x Objekt â das Produkt eines kooperativen Produktionsansatzes
Kooperation eignet sich besser fĂŒr dezentrale Arbeitsweisen. Das kann Musiker:innen viel Druck nehmen und ermöglicht ihnen, Ideen vor dem ZusammenfĂŒgen der Einzelteile erstmal alleine zu entwickeln. Sich an die Zusammenarbeit mit Massive Attack in den frĂŒhen 90ern erinnernd, gesteht Tracey Thorn, dass sie mit der ersten ihr zugesendeten Kassette von âProtectionâ erstmal nicht besonders viel anfangen konnte. âIch habe das Tape erstmal eine Weile mit mir rumgetragenâ, schreibt sie. âAnfangs kam ich damit nirgendwo hin. Irgendwann ist es dann in mein Gehirn eingesickert⊠Ein paar Tage spĂ€ter habe ich das Massive-Tape wieder aufgelegt, habe mir Papier und Stift geholt und den kompletten Song fast in einem Zug runtergeschrieben.â
Kollektive Kreation
Am wenigsten reziproken Ende des Spektrum befindet sich die âKollektive Kreationâ, die auf den ersten Blick nicht mehr viel mit Kollaboration im klassischen Sinne zu tun hat. Hier besteht, so Makelberge, âkein bewusster Anspruch oder explizit beschlossener Plan von einer der Seiten, zu kollaborieren oder zu kooperieren.â Die involvierten Personen treffen sich nicht und sprechen nicht miteinander, weder on- noch offline, und arbeiten auch nicht gemeinsam â weder im Studio, noch remote. Dennoch bringt die Herangehensweise laut Makelberge âKunstwerke hervor, die die Skills, MĂŒhen und Produktionen vieler KĂŒnstler:innen involvieren.â
Als Beispiel dafĂŒr kann der Umgang von Hip-Hop-Produzent:innen mit Samples dienen: Sobald Samples in Produktionen einflieĂen, werden sie zum Element einer Konversation mit den KĂŒnstler:innen, die sie aufgenommen haben â ohne dass sich sampelnde und gesampelte Person jemals getroffen hĂ€tten. Viele Hip-Hop-Produzent:innen ziehen es vor, allein zu arbeiten. âDas ist der Shitâ, sagte der Produzent Mr. Supreme 1998, âum vier Uhr morgens zu hause zu sein, in Boxershorts, vor dem Sampler, geilen ScheiĂ zu produzierenâ. Supreme ist einer von Dutzenden Rap-Produzenten, die der Musik-Forscher und Hip-Hop-Experte Joseph G. Schloss fĂŒr sein Buch âMaking Beatsâ interviewed hat, in dem Schloss und seine GesprĂ€chspartner:innen mit Mythen ĂŒber die im Wesentlichen âsozialeâ Natur Schwarzer Musik aufrĂ€umen. Gleichzeitig zeigt das Buch auf, dass jeder Mensch, der zu Hause in Unterhosen Musik macht, Teil einer Konversation mit allen anderen Produzent:innen ist, die jemals einen Beat gebaut oder veröffentlicht haben, und mit jeder:jedem Musiker:in, der von diesen Produzent:innen wiederum gesamplet wurde. Von diesem PhĂ€nomen spricht wohl auch Daveed Diggs des Hip-Hop-Trios clipping., als er beim Podcast âThe Song Exploderâ erzĂ€hlt, dass seine Gruppe âaus der versprengten Perspektive jedes Rapsongs schreibt, den es jemals gabâ, und darauf besteht, es handle sich bei clipping. um âeinen Bienenstock von Dingen, die in der Welt der Rap-Musik existieren.â
clipping. beim Podcast âThe Song Exploderâ ĂŒber Sampling als kollektives Schaffen
Diese Art des kollektiven musikalischen Schaffens ist so alt wie Musik selbst. So kann Folk-Musik etwa als Wiederverwertung von Materialien begriffen werden, von Menschen ĂŒber viele Jahrhunderte hinweg geschaffen und jederzeit bereit, aufgegriffen und neu verwendet zu werden. In den 1970ern und 80ern haben Reggae, Dub und Dancehall diese Produktionsweisen noch potenziert, mit dem Auftrieb durch Nachkriegs-Technologien und dem, was derReggae-Historiker Lloyd Bradley als âjamaikanischen Einfallsreichtumâ beschrieben hat. Wenn ein Reggae-Song zum Hit wurde, erschienen in der direkten Folge immer Dutzende âVersionenâ desselben Songs. Dabei handelte es sich nicht um Coverversionen im ĂŒblichen Sinne; vielmehr nahm ein:e Produzent:in den Rhythmus oder die Melodie des ursprĂŒnglichen Songs und ergĂ€nzte diese um eigene Ideen, ĂŒblicherweise ohne Beteiligung der eigentlichen KĂŒnstler:innen. âEs ist nicht so, als wĂŒrden wir Leute bestehlenâ, erklĂ€rte The Mighty Diamonds 1977. âWir nehmen einen Riddim und erneuern ihn und nehmen ihn nochmal auf. Und dann fĂŒgen wir dem Ganzen unsere eigenen Ideen hinzu. Wir nennen das eine âSalbungâ des Riddims mit unserer eigenen Magie.â
Kollektives Musikmachen begleitet uns schon lange, das Internet scheint die Entwicklung der Technik jedoch beschleunigt zu haben. âVocals, die in Hinterhofstudios entstehen, werden online released und am selben Abend ĂŒber Soundsystems gespieltâ, beschreibt Autor und DJ Jace Clayton 2016 hinsichtlich dessen, was er âWeltmusik 2.0â nennt. âAm nĂ€chsten Tag wurde der Track dann schon von einer Crew am anderen Ende der Welt gesampelt und mit dem vermischt, was auch immer die gerade brauen.â Das, so Clayton, âist die Volksmusik des 21.Jahrhunderts.â
Donuts
âI like the donuts, gimme le donuts, le donutsâŠâ [âIch mag Donuts, gib mir die Donuts, die Donutsâ, Anm.] Das Setting: Eine KĂŒche irgendwo in den USA. Eine blonde Frau ist mit der Zubereitung eines aufwĂ€ndigen Desserts beschĂ€ftigt â Donuts in Kondensmilch gebacken und mit Puderzucker bestĂ€ubt â, und ein beleibter Mann namens Mike kommentiert das Ganze, oder versucht es zumindest. Dabei versetzt ihn die entstehende SĂŒĂspeise derart in Aufregung, dass ein Song aus ihm herausplatzt â und wie sich herausstellt, ist Mike ein Naturtalent. âDiabetesâ, trĂ€llert er in einem sakralen Tenor, âHigh Blooood-Pressureâ [Hoher Blutdruck, Anm.]
Plötzlich erscheint eine kleine Gruppe, bestehend aus drei Musikerinnen aus drei verschiedenen LĂ€ndern, in der mittlerweile relativ beengten KĂŒche und begleitet Mikes Gesang â ohne sich jemals begegnet zu sein, ohne auch nur einzuzĂ€hlen oder auf einen sicht- oder hörbaren Einsatz zu reagieren. So plötzlich, wie sie angefangen haben, stoppen sie auch â nur um wieder loszulegen, sobald auch Mike wieder singt.
Das alles ist natĂŒrlich unmöglich â oder es wĂ€re es zumindest im echten Leben. Aber wir befinden uns hier nicht in der RealitĂ€t, sondern auf TikTok, das in vielerlei Hinsicht zum Inbegriff von Makelbergs âKollektiver Kreationâ avanciert ist. Die Duett-Funktion von TikTok hat zu Kollaborationen gefĂŒhrt, die niemals in Form von physischen Begegnungen stattgefunden hĂ€tten; nicht nur, weil die Teilnehmenden sowohl geographisch als auch sozial aus verschiedenen Welten stammen und vermutlich verschiedene Sprachen sprechen, sondern auch, weil die meisten von ihnen etwas derart Albernes niemals in einem Raum voller Menschen getan hĂ€tten. Weil auf TikTok alles remote und zeitversetzt geschieht, können die Teilnehmenden proben, ihre musikalischen Moves in aller Abgeschiedenheit perfektionieren und ihren Beitrag passiv leisten. Hier ist es möglich, die eigene Autonomie zu bewahren, und dennoch sozial Musik zu machen â gemĂŒtlich im Schrank zu bleiben und trotzdem mit den anderen zu jammen.
Das Kontinuum entdecken
Es gibt verschiedenste GrĂŒnde, eins der drei Ks den anderen vorzuziehen â abhĂ€ngig davon, wer man ist, wo man sich befindet und was man gerne machen möchte. In ihrem Buch âIâll Never Write My Memoirsâ, erklĂ€rt Grace Jones detailliert, warum die kollektive Herangehensweise an die Aufnahmen ihrer frĂŒhen Disco-Alben irgendwann an Reiz verlor: Sie sei auf ihren eigenen Alben behandelt worden wie eine GastsĂ€ngerin, der nach der kĂŒnstlerischen Entwicklung und der Produktion der Arrangements lediglich noch kleine Gesangs-Unteraufgaben zugeteilt wurden. Als sie sich 1980 fĂŒr einen Wandel entschied, stellte Labelchef Chris Blackwell eine Band um Jones zusammen und buchte ein Studio fĂŒr sie, in dem sie durch Improvisation Songs entwickeln sollten. Dadurch sollte Jonesâ Persönlichkeit von Anfang an in den Mix einflieĂen. Dieser Arbeitsmodus half Jones dabei, ihre Stimme als KĂŒnstlerin zu finden, und mĂŒndete in einigen der besten und auch kommerziell erfolgreichsten Songs ihrer Karriere.
Derartige Ressourcen stehen natĂŒrlich nicht allen zur VerfĂŒgung, und nicht alle sind an derartigen Ergebnissen interessiert. Der ghanaische Produzent Gafacci macht seit 2009 Musik und baute dabei zunĂ€chst auf etwas, was er selbst als ânomadischenâ musikalischen Lifestyle beschreibt. Er zog von Studio zu Studio und arbeitete mit seinen Kollaborator:innen in Accra. Nachdem er beschlossen hatte, auch jenseits seiner Heimatstadt aktiv zu werden, nutzte er die Tatsache, dass Sound-Dateien Grenzen leichter passieren als Menschen. Er entwickelte eine kooperative Praxis: Heute produziert er seine Tracks zu 70 % fertig und wendet sich dann an sein Netzwerk zwischen Lissabon und den USA, damit Andere sich der restlichen 30 % annehmen. Briefings und Feedback verschickt er per Whatsapp. âDas Internetâ, so der KĂŒnstler, âwar gut zu mirâ.
So wie auch Bev Stanton oder Yair Glottmann hat auch die belarussische Produzentin und Songwriterin Mustelide ihre UrsprĂŒnge in einer eher an Bands orientierten Szene. Dementsprechend nahm sie an, man brauche eine Gruppe an Musiker:innen, um Musik zu machen. SĂ€mtliche damals noch vorhandenen Romantisierungen vom gemeinsamen Real-Life-Musikmachen hat sie jedoch mittlerweile hinter sich gelassen. âIch habe mich selbst immer eher als jemanden betrachtet, der als Teil einer Band Musik macht, und wo Produzenten und autoritĂ€re Typen in ihren teuren Studios sitzen, â erzĂ€hlte sie 2021 in einem Interview mit Pop Kultur. âAls dann die Zeit der DIY-Produzent:innen anbrach und ich Zugang zu all diesen Produktions-Tools bekommen habe, also Maschinen, die Musiker:innen ersetzen und Ableton, das professionelle Studios ersetzt, hat es sich fĂŒr mich endlich richtig angefĂŒhlt, in die magische Welt der Produktion und des Sounddesigns einzutauchen.â Mustelide entschied sich gegen die patriarchale Kultur, die ihr in professionellen Studios stets Unbehagen beschert hatte â sie hörte jedoch niemals auf, mit anderen Musikschaffenden zu arbeiten. Ihr drittes Album bestand aus Samples von kaputten Instrumenten, die von einer US-basierten Organisation namens Found Sound Nation gesammelt wurden. Sie waren sich nie begegnet, aber wozu auch?
âTelo Ogonâ von Mustelide entstand auf Basis von Samples kaputter Instrumente
Mustelides unheimliche Pop-Konstrukte hĂ€tten wahrscheinlich nicht im selben MaĂe weiterentwickelt, hĂ€tte sie die Instrumente selbst kaputtgemacht und im Studio in Echtzeit gesampelt. Und Gafaccis Karriere als internationaler Produzent hĂ€tte sich niemals so auĂerordentlich entwickelt, hĂ€tten er alle seine Kollaborationspartner:innen nach Accra einfliegen mĂŒssen. Grace Jones erzielte bei Jams mit ihrer Band Ergebnisse, die sie nie erreicht hĂ€tte, hĂ€tte jemand einfach ihre Stimme auf vorfabrizierte Disco-Tracks gelegt. Big Mikes Donut-Hit hingegen verdankt seinen kompletten Erfolg der Tatsache, dass die Band, Mike und die Frau mit den Donuts einander weder trafen noch irgendetwas ĂŒbereinander wussten.
Sich die Natur musikalischer Beziehungen als Kontinuum statt als Hierarchie vorzustellen, hilft uns dabei, sie nach ihren eigenen QualitĂ€ten zu bewerten, nach den Beziehungen zu den verwendeten Tools, und danach, wie gut jene zu unseren Persönlichkeiten und musikalischen Zielen passen. Nachdem Yair Glotmann viele Jahre lang die Autonomie der kollektiven Kreation genossen hat, hat er sich mittlerweile wieder der Kollaboration zugewendet. Nicht, um zu einem Ideal oder einem âNormalzustandâ zurĂŒckzukehren, sondern weil er sich ĂŒberraschen lassen will. âIn der Do-it-yourself-MentalitĂ€t kann man sich komplett verlierenâ, sagt er mit einem Lachen. âDu fĂ€ngst an, dich in deinen eigenen Ideen zu verlieren. Also fange ich wieder an, Vertrauen auf andere aufzubauen.â
Resonanzen
Es war einmal eine Zeit, da waren Kollaboration und Kooperation die Regel des Studios. Elektronische Musik jeglicher Art zu produzieren bedeutete, dass man mit mindestens einem:einer Tontechniker:in arbeiten musste, meist sogar mit noch mehr Menschen. Heute kann eine einzelne Person mit einem Laptop in einem Netzwerk mit Leichtigkeit Sounds produzieren, fĂŒr die vor drei Jahrzehnten noch ein Team an Spezialist:innen vonnöten gewesen wĂ€re.
Wenn Kollaboration und Kooperation jedoch nicht mehr unbedingt Voraussetzung sind, um komplexe, vielschichtige Musik zu produzieren, heiĂt das noch lange nicht, dass sie keine Freude mehr bereiten wĂŒrden. Das Musikmachen mit anderen kann neues Licht auf alte Probleme werfen, uns neue Wege des Denkens und Arbeitens eröffnen und unsere kulturellen Horizonte erweitern.
Aufnahmetechniken und das Internet haben ganz neue Möglichkeiten fĂŒr das Musikmachen geschaffen: Online-Sample-Bibliotheken, die Remix-Kultur, Bootlegs und TikTok. Diese Art des âkollektiven Musikschaffensâ, das Millionen an Menschen involviert, mag vielleicht nicht anmuten wie die alten Formen des Jammens oder der Zusammenarbeit im Studio. Sie ist dennoch inhĂ€rent sozial, reich an musikalischen Möglichkeiten und hat die Musikkultur ein ums andere Mal von Grund auf umgewĂ€lzt.
TatsĂ€chlich liegt darin die soziale Basis fĂŒr unsere als selbstverstĂ€ndlich hingenommene Autonomie. Der vernetzte Musikproduzent kann nur selbststĂ€ndig arbeiten, weil Millionen an Menschen Arbeit investiert haben und Sounds und Tools zur VerfĂŒgung gestellt haben. âInsofernâ, schreibt Makelberge, âstellen uns unsere Gleichgesinnten im Internet einen globalen, resonierenden Klangkörper zur VerfĂŒgung: Ein Merkmal des vernetzten Computermusikinstruments, so fundamental wie, sagen wir, der Klangkörper eines Cellos.â
Text von Craig Schuftan, Leiter der Loop Curation
Loop Create 2022: Get Together
Auf der diesjĂ€hrigen Ausgabe von Loop Create geht es darum, wie Menschen zusammen Musik machen; wie Talente und Ideen sich in Kollaborationen verbinden, wie wir gemeinsam Dinge schaffen, die alleine nicht gingen, und wie unsere Stimmen Teil von kollektiven Praxen werden â zum SpaĂ, fĂŒr kommerzielle Erfolge oder ĂŒberraschende ZufĂ€lle. Loop Create ist ein online stattfindendes, 6,5-stĂŒndiges Event fĂŒr Musikschaffende mit Interviews, Workshops, einer interaktiven Produktions-Challenge und mehr. Am 29. Oktober 2022.
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