“Vieles ist einfach nur Spötterei – besonders über alte und neue Klischees der Engländer” sagt Elizabeth Bernholz alias Gazelle Twin auf die Frage, was sie dazu inspirierte, eine so erstaunliche Vielfalt von Stimmen auf ihrem neuesten Album, Pastoral, aufzunehmen. Diese Vocals, erklärt sie, seien sie nun gesprochen, gesungen, geflüstert oder sonstwie intoniert, wurden inspiriert (oder vielleicht eher provoziert) durch das, was, wie sie sagt, “die meisten, die hier [in Großbritannien] leben, als alltäglichen Rassismus / Vorurteile / Fremdenfeindlichkeit erkennen würden. Von Seiten bestimmter Generationen, auf den Straßen, in der Klatschpresse. Meine Aufgabe war, das in unterschiedlicher Weise in die Produktion zu einfließen zu lassen.”
Gazelle Twin: Hofnärrin im 21. Jahrhundert
Bernholz’ Musik hat sich schon früher mit düsteren Themen befasst. UNFLESH, das Gazelle Twin Album von 2014 wurde beschrieben als instinktive Darstellung von Pubertät, Phobie und Genderidentität – erzählt mit einem Spektrum von Chorstimmen und gesprochenem Wort, vor dem Hintergrund unerbittlicher Elektronik. Ihr Perfomanceprojekt Kingdom Come wagte sich an Tribalismus, soziale Konditionierung und Faschismus in der gegenwärtigen Vorstadt- und Konsumlandschaft.
Ihr neuestes Werk Pastoral entstand vor dem Hintergrund der Brexit-Kampagnen und dem Referendum – in einer Zeit mit intensiven und lautstarken Debatten u.a. darüber, wer und was eigentlich “englisch” ist. Passend zu der Uneinigkeit über die Vorstellung einer nationalen Identität, beschwört das Album eine hoch originelle Klangwelt herauf, voller Verweise auf Englands idealisierte Vergangenheit – aus der verzerrten Perspektive der Gegenwart betrachtet. In diesem Kontext nimmt Bernholz die Rolle einer Hofnärrin des 21. Jahrhunderts an und persifliert die verstörenden Plattitüden des wieder aufkommenden Populismus durch ihre außergewöhnliche Bandbreite an Stimmlagen, Texturen und Bearbeitungsmöglichkeiten.
In einem kürzlichen Gespräch mit uns beschrieb Bernholz ihre Herangehensweise an die Vocal-Produktion auf Pastoral: “Auf dem Großteil des Albums hört man gesprochene Worte, und bei der Bearbeitung der Vocals richte ich mich meist nach der Stimmung des Songs. Bei dem gesprochenen Material sind die Vocals mehrspurig, normalerweise in 4-5 Schichten mit jeweils leicht variierenden Tonhöhen. Ich gleiche beim Produzieren die Geschlechter gerne aus und experimentiere auch mit einem ‘Chor’ von Stimmen. Das mache ich meist manuell mit ganz einfachem Panning und Pitching, um Räumlichkeit und verschiedene Geschlechter zu suggerieren.
Ich verwende gerne eine ganze Palette von Effekten bei der Produktion, aber ich bleibe auch bei meine Favoriten, ich mag etwas Kompression bei gesprochenem Wort, so dass es sich anfühlt, als sei es wirklich in deinem Ohr; und ich benutze fast immer Chorus in unterschiedlichen Abstufungen, weil ich die Schwingung und das unnatürliche Gefühl mag, das man damit erzeugen kann. Auf manchen Tracks lasse ich das Material besonders trocken, wie auf ‘Tea Rooms’ und ‘Dieu Et Mon Droit’, weil die Stimme darauf meiner am nächsten kommt, also machen weniger Filter sie klarer und bieten einen Kontrast zu dem stark bearbeiteten Material an anderer Stelle.”
Die Stimmen auf Pastoral sind nur ein Teil des Gesamtbildes; ebenso faszinierend ist das gesamte Sound Design, das Bernholz abliefert. Mit seinen polarisierenden, frechen, hyper-aktuellen Drum-Machine- und Synthesizer-Sounds und einer eindeutig vormodernen Note durch Flötenklänge, Cembali, und die Schnörkel orchestraler Streicher scheint das Album in einer Art mittelalterlicher Zukunft voller befremdlicher Harmonien und Dissonanzen verortet zu sein. Wie sie erklärt, ist diese besondere Kombination absolut beabsichtigt.
“Zu Beginn habe ich mit gesampelten Blockflöten gespielt, mit Teilen von früher Musik, die mir sehr gefiel, und ich wollte sehen, wie man damit eine Epoche andeuten könnte und dabei dennoch von Belang für das Album bliebe – das heißt, für ein Album aus dem Jahr 2018. Ich arbeite fast ausschließlich mit Samples, vorgefundenen oder selbstgemachten. Ich benutze alles, was ich auf Lager habe. Für dieses Album wollte ich eine Menge billiger Plastikflöten benutzen, Sopran und Diskant, Sachen, die ich schon immer hatte, schon als Kind, sowie Glocken, Tambourin und andere nach Folk klingende Perkussionselemente.
Als Gegensatz dazu habe ich einige virtuelle Instrumente in Live benutzt – ich wollte dieses barocke Gefühl, aber auch irgendwie etwas Roboterhaftes, also jagte ich ein Flöten-Staccato durch den Arpeggiator. Ich füge meine eigenen Samples gerne in diese MIDI-Instrumente ein, dann wirken sie nicht mehr so poliert. Außerdem habe ich das FM-Cembalo mit einigen zusätzlichen Effekten darüber benutzt. Mir gefiel, dass das schon ein leichtes Delay hatte, das passte gut zu der Palette des Albums.”
Wie bei vielen Elektronik-Musikern, die mit Samples arbeiten, geht die Erstellung einer Soundpalette direkt in den Kompositions- und Arrangementprozess über, wie Bernholz erklärt: “Auf diesem Album lasse ich die natürlichen Rhythmen der geloopten Samples den Rest bestimmen – man kann das richtig hören auf ‘Folly’, ‘Throne’, ‘Mongrel’ etc. – also ergeben sich das Tempo, die Beats, die Basslines und der Rest von allein, wenn ich auf einen guten Loop gestoßen bin.
Ich arbeite auch viel mit Bordun – also nur gehaltenen Töne. In meiner Musik moduliere ich die Tonarten nicht viel oder verschiebe Akkorde, ich arbeite eher an Textur, Tempo und Stimmung als an irgendetwas anderem. Das ist wahrscheinlich auch das Ergebnis von viel Improvisation. Ich benutze nicht wirklich viel Hardware, ich benutze meinen guten alten Korg MIDI Controller und spiele viel mit den Vocals herum.”
So schrill Pastoral klingt, es ist dennoch eine ästhetische Einheit – eindeutig schon als Album konzipiert und nicht als eine Ansammlung von Tracks. Immer eingedenk der visuellen und performativen Präsentation von Gazelle Twin fand Bernholz die ideale Verkörperung der Musik und der Lyrics des Albums in der Figur des Hofnarrs – dem rot und weiß gekleideten Schalk, der markant im Artwork, den Videos und der Live Show des Albums vorkommt.
“Der Hofnarr war der perfekte Charakter, um viele verschiedene Stimmen, Geschlechter, Altersstufen und Klischees zu verkörpern. Das ganze Album steht im Geiste von Sarkasmus und Spott, und so war der Hofnarr von Beginn an ein essentieller Teil davon. Als ich begann, das Album zu schreiben, dachte ich an diese alltäglichen Stimmen, von denen ich vorher sprach, und an die Bewegungen, die sie deinem Körper aufzwingen, und die Gesichtsausdrücke, die sie bewirken; es fühlte sich einfach so an, als sei ich eine Marionette oder ein Komiker.
Dann sind da noch die Farben und der Fußball und traditionelle Assoziationen – die rot-weiße Flagge von St. George, Moriskentanz und die teuflischen Qualitäten oder die Schadenfreude, die zum Hofnarr/Joker dazugehören. Mir gefiel auch, dass dies auf den königlichen Hof verweist, auch die allgemein historische Atmosphäre – all das ist relevant für das, was ich mit meinen Lyrics, der Musik, dem Artwork sage, aber Pastoral steht sehr im Geiste des Englands des 21. Jahrhundert, genau jetzt.”
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