Iyer: Mein Footwork feiert die tamilische Kultur
Der frenetische Musik- und Tanzstil Footwork entstand schon in den 1990er Jahren, aber die Snare-Stakkatos aus Chicago sind auch heute noch weltweit angesagt.
Von Peru bis Japan gibt es Plattenlabels und Parties, die sich den zuckenden Beats des Genres widmen. Sie als reine Nachahmende zu bezeichnen wäre falsch, denn ihre Einflüsse stammen nicht nur aus dem Footwork des Mittleren Westens, sondern auch aus der traditionellen Musik ihrer Heimat. Spanische Crews kombinieren die zerrissenen Footwork-Pattern beispielsweise mit Flamenco. Und der renommierte Footwork-Produzent Surly überraschte auf seiner 2017 erschienenen EP Trip to Warsaw mit Elementen des polnischen Jazz der Nachkriegszeit.
Für den in Singapur lebenden Produzenten Nikhil Ramakrishnan alias Iyer wurde Footwork zum perfekten Vehikel für seine südindischen Roots. Seine jüngsten Alben sind von synkopierter Percussion und eng gewickelten Grooves geprägt, die sich um Samples tamilischer Chart-Hits drehen.
„Als ich meine ersten Footwork-Beats machte, wurde mir schnell klar, wie nahe diese Rhythmen den tamilischen Songs standen, mit denen ich aufgewachsen bin“, erzählt Iyer in unserem Telefoninterview. „Tamilische Musik hat viel Energie und Geschwindigkeit, die melodischen Strukturen ändern sich ständig und selbst langsame Songs besitzen eine große Spannung. Wenn man sie beschleunigt, passen sie ziemlich gut in den Footwork-Kontext.“
Iyer, dessen Familie aus dem südindischen Bundesstaat Tamil Nadu stammt, ist mit der tamilischen Sprache und Filmen auf Tamil aufgewachsen. Die meisten seiner Samples sind Soundtracks von Filmen der 1990er Jahre entnommen. Viele dieser Soundtracks sind bereits Dancefloor-kompatibel, und in Kombination mit Iyers abstrakter Hip-Hop-Produktionsästhetik werden daraus experimentelle Clubsounds: „Wenn tamilische Songs wie ein Fest klingen, sind sie für mich am leichtesten zu sampeln“, sagt Iyer.
Auf Iyers Album Third Culture Tamilian verbinden sich druckvolle Bass-Kicks und krispe Hi-Hats nahtlos mit den wirbelnden Rhythmen tamilischer Songs. Das Album erschien 2019 auf dem Londoner Label Modern Ruin Records, als Nachfolger der Debüt-EP Tamil Footwork von 2014. Dort hat Iyer die tamilischen Melodien kaum verändert, um den Hörern die Dynamik der tamilischen Musik mit ihren 1980er-Synth-Sounds und dem spielerischen Dialog zwischen den Sängern nahezubringen.
Raum erzeugen
Die meisten Footwork-Tracks bewegen sich zwischen 140 und 160 BPM und kombinieren fragmentierte Vocal-Samples mit schwindelerregend schnellen Drum-Machine-Beats. Footwork ist mit Juke verwandt – einem Genre, das sich als eine rauhere und schnellere Version von Ghetto House beschreiben lässt. Iyer spielt zwar auch mit Juke-Elementen, aber in einer minimalistischen Form, die an die Lo-Fi-Stilistik des legendären DJ Nate aus Chicago erinnert. Sein Track „Rahukaalam Rajini Rush“ auf Third Culture Tamilian ist ein gutes Beispiel dafür: Hier wird Juke auf sein Skelett reduziert, ohne dass die elektrische Energie verlorengeht.
Im Grunde ist es die vielseitige Natur des Footwork, die Iyer fasziniert. Weil der Stil tighter und kontrollierter als andere Bass-Music-Spielarten ist, lässt er sich aus seiner Sicht viel besser mit Trap- oder Jazz-Elementen kombinieren.
Iyers musikalische Vorbilder sind die Pioniere des Chicago-Footwork – DJ Rashad, RP Boo und Traxman – und er gehört zu einer jüngeren Generation von Künstler:innen, die Footwork den Weg in die Zukunft weisen: „Meine Musik soll eine Hommage an die Wurzeln des Genres sein“, sagt er. „Ich betrachte mich als ein Vehikel für die Musik, und es geht mir immer darum, den Footwork-Erfindern Respekt zu erweisen“.
Insbesondere Rashad ist eine wichtige Inspiration für Iyer. Der 2014 verstorbene Künstler war berühmt für raumgreifende Chords und fließende Klänge, die ein emotionales Gegengewicht zu den aggressiven Drums darstellten. Daran angelehnt erzeugt Iyer gerne Raum in seiner Musik – mit halbierten Geschwindigkeiten und tonalen Kontrasten: „Mein Fokus liegt auf der Wiederholung – es soll wie ein Mantra wirken. Mein Ziel ist der Sound einer Musikkapelle – ein zu- und abnehmendes Crescendo.“
Iyers DAW-Lieblingsfunktion ist der Arpeggiator – ein zuverlässiger Lieferant komplexer Offbeat-Drum-Sequenzen. Manchmal layert er damit auch Hi-Hats und spielt Sequenzen, die sich von Hand nicht spielen lassen, denn: „Es gibt keine Regeln“.
Der Großteil von Iyers Musik entsteht in der Software, auf andere Tools greift er nur bei Bedarf zurück – zum Beispiel eine MPK 1000 Drum Machine für Oldschool-Sounds. Oder ein Arturia Keylab 61 Keyboard in Kombination mit virtuellen Synths wie Serum, Omnisphere, Synth1 und Kairatune. „Serum macht großen Spaß – der Synth hat gute Synthese-Algorithmen und liefert überzeugende und großartige Sounds.“
Mit digitalen Effekten geht Iyer eher sparsam um, aber er legt gerne viel Reverb auf seine Samples: „Mir geht es darum, einen ätherischen Raum zu schaffen, der verschiedene Bereiche im Frequenzspektrum einnimmt – genau wie bei Rashad.“
Botschafter des Südens
Das tamilische Kino wird oft von Bollywood in den Schatten gestellt – dem primären indischen Filmmarkt, der Hindi spricht und renommierte Kompositionstätige wie A.R. Rahman und Ilaiyaraaja vorweisen kann, die zu den bekanntesten Musikschaffenden Indiens zählen. Ihre Arbeiten der 1990er und frühen 2000er Jahre prägten Iyers Jugend, und das hört man seinen Alben auch an.
Iyers Track „Joy and Suffering“ von seinem Album Third Culture Tamilian ist gewissermaßen eine Break-Version von A.R. Rahmans Song „September Madham“ aus dem 2000 erschienenen Film Alaipayuthey – pulsierende Claps verstärken das Sehnsuchtsgefühl des Originals. „Die Energie dieses Songs ist bei mir hängengeblieben – ich habe versucht, seine Dringlichkeit durch mein Resampling noch zu erhöhen“, erklärt Iyer.
In der Musik von A.R. Rahman, der in Südasien ziemlich bekannt ist, entdeckte Iyer so manches Jungle-Element – zum Beispiel in Rahmans Song „Shakalaka Baby“ mit der Drum Machine 808: „Es macht für mich auf jeden Fall Sinn, seine Musik zu samplen“, sagt Iyer lachend.
Hinter Iyers Musik steht der Wunsch, den kreativen Reichtum Südindiens zu repräsentieren – und die tamilische Kultur zu promoten. „Wenn über indische Musik gesprochen wird, geht es meist um den Norden des Landes und um Bollywood. Das ärgert mich – der Süden bekommt selten die Anerkennung, die er eigentlich verdient.“
Als Beispiel nennt Iyer, dass nur Wenige die tiefgreifenden Themen des tamilischen Kinos kennen. In seinem Song „Rahukaalam Rajini Rush“ hat er einen Dialog aus dem 1999 veröffentlichten Film Padayappa gesampelt, der von geschlechtsspezifischer Machtdynamik handelt: „Das sind die Themen, die ich mit meiner Musik ansprechen will.“
Der junge Künstler ist im Herzen ein Purist – lieber will er die Essenz der tamilischen Samples bewahren, als sie bis zur Unkenntlichkeit verzerren. „Viele meiner Samples sind ungekürzt, weil ich die Originale einfach mag“, sagt er. „Wenn sie schon ein musikalisches Motiv haben, muss ich die Melodie manchmal gar nicht mehr verändern. Falls das Motiv nicht stark oder das Sample schon zerlegt ist, sieht das natürlich anders aus.“
Iyer will sich beim Sampling bis auf Weiteres auf tamilische Hits beschränken. Volksmusik oder klassische Melodien machen für ihn weniger Sinn: „Wenn man zum Beispiel esoterische karnatische Musik [traditionelle südindische Musik] sampelt, wird ihre Bedeutung reduziert. Und das wäre dann keine Hommage. Stattdessen würde ich lieber mit anderen Musiker:innen zusammenarbeiten und diesen Sound neu erfinden.“
Auf die Frage, ob seine indischen Wurzeln ihn in eine Schublade stecken könnten, antwortet Iyer mit Gelassenheit: „Der erzählerische Aspekt der eigenen Musik oder DJ-Sets ist wichtig. Ich will die tamilische Musik präsentieren, und deswegen ist es mir egal, ob ich kategorisiert werde. Schließlich bin ich nur eine Geschmacksrichtung in einem vielfältigen großen Werk – und damit gesegnet, ein Publikum zu haben.“
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Text und Interview: Nyshka Chandran