Emeka Ogboh: Die Stadt komponiert
Emeka Ogboh war auch vor seinem Eintritt in die Welt der elektronischen Musik kein unbeschriebenes Blatt. Nach seinem Umzug nach Berlin begann der in Lagos, Nigeria geborene Klang- und Installationskünstler, Field-Recordings aus seiner Heimatstadt mit musikalischem Material zu kombinieren; einige der entstandenen Kompositionen teilte er auf Ausstellungen in Paris und Berlin. Nachdem das zum Berliner Berghain gehörige Label Ostgut Ton Wind von seinen musikalischen Projekten bekommen hatte, wurde dem Künstler ein Release auf deren Ambient-Sublabel A-TON angeboten. Ergebnis war das Album Beyond the Yellow Haze von 2021 – ein Release, der viel Anerkennung für die Art erfuhr, wie leichtfüßige Melodien und Rhythmen sich mit den dichten Soundscapes der Stadt Lagos verweben. Im darauffolgenden Jahr ließ Ogboh ein weiteres Album folgen, diesmal auf seinem eigenen Label Danfotronics. Seine Heimat hat der Release an einem sehr speziellen Ort in Lagos: Dem Viertel Ojuelegba und einer belebten Bushaltestelle, der sich genau an den Koordinaten 6°30′33.372″N 3°22′0.66″E befindet – dem Titel des Albums.
Beide Releases wurden in der Rezeption für ihre transportiven Qualitäten und die virtuose Produktion gelobt. Vor der Aufnahme der beiden Alben hatte Ogboh keine Musik produziert – im Gespräch mit mir betonte der Künstler, er würde sich selbst nicht als Musiker bezeichnen und nur aus Intuition handeln. Während unseres mehrstündigen Videocalls wollte ich also herausfinden, wie jemand ohne Vorerfahrung einen so eindrucksvollen Beitrag zur Welt der elektronischen Musik leisten konnte.
An anderer Stelle hast du mal erwähnt, dass du diese Aufnahmen von Lagos schon eine ganze Weile gespeichert hattest. Wie kam es dann, dass du dann Musik damit gemacht hast, und hat dir diese Aufgabe nicht auch Respekt eingeflößt?
Nicht unbedingt, ich arbeite ja schon eine ganze Weile mit Sound. Vielleicht nicht als Musikschaffender, aber ich habe Sounds editiert, platziert, gelayert. Das ist auf eine Art ja so ähnlich wie Musik machen. Das Gehör ist ein intuitiver Sinn – man fühlt, wie lang ein Stück sein sollte, wie es anfängt, wo die Mitte ist und das Ende. Viele Menschen verlassen sich einfach auf ihre Ohren, wenn sie Musik machen, aber ich habe meinen Körper eingesetzt: Wie fühlt sich mein Körper damit? Das habe ich mit den Klanginstallationen gelernt, und deshalb hatte ich auch dieses Gefühl, dass ich Musik machen kann, komponieren kann. Was ich nicht wusste, war, wie die Software funktioniert – deshalb habe ich einen Kurs in elektronischer Musikproduktion gemacht, um Ableton Live zu lernen. Ich weiß schon, dass es online diese ganzen Tutorials gibt, aber ich wollte was praxisnaheres.
Womit hast du deine Field-Recordings bearbeitet?
Alles, was ich mit Field-Recordings mache, mache ich außerhalb von Ableton. Ich habe meine Aufnahmen mit Adobe Audition bearbeitet, sie in einen Ordner gepackt, das in Ableton importiert und dann angefangen, daraus etwas zu bauen. Ich liebe die Vorhör-Funktion von Ableton, wo man auf einen Sound klickt, während die Musik spielt, und man ihn dann zur Musik hört.
Hast du eine feste Methode, wie du deine Field-Recordings sortierst und organisierst, bevor du anfängst?
Nicht wirklich, aber meine Soundscape-Kategorien sind Anthrophonie, Biphonie und Geophonie. Urbane Sounds fallen unter Anthrophonie, womit ich menschengemachte Klänge bezeichne, im Gegensatz zu Biphonie, die durch Tiere entsteht, und Geophonie entsteht durch das Wetter. Im Falle von Lagos fällt alles unter Anthrophonie. Abgesehen davon sortiere ich das dann, also zum Beispiel: das hier ist vom Markt, das von der Bushaltestelle. Wenn ich Leute bei Interviews aufnehme, dann ist das geordnet in Kategorien wie: Leute, die arbeiten, mit Sachen handeln, Sachen auf der Straße verkaufen, sowas. Am wichtigsten war [für das Ojuelegba-Album] die Kategorie der Bushaltestellen, dann habe ich die mit Datum und Zeit versehen und das war’s auch schon.
Wie hast du dann weitergemacht? Wie hast du aus diesen Field-Recordings Musikstücke gemacht?
Der Prozess fängt für mich immer so an, dass ich meine Festplatten durchgehe, mir Sachen anhöre und mich dann für Ausschnitte entscheide. Von einer zweistündigen oder einstündigen Aufnahme nehme ich dann zum Beispiel einen 25-minütigen Ausschnitt, den ich spannend finde, oder der das anspricht, was ich machen möchte, und das [Gefühl für diesen] Raum entstehen lässt. Ich stelle das dann auf Loop und setze Noise-Cancellation-Kopfhörer auf und konzentriere mich nur auf diesen Ausschnitt. Diese Art des bewussten Zuhörens kann so ein, zwei Stunden dauern. Dann merke ich, wie die Musik rauskommt. Manchmal hole ich dann auch mein Aufnahmegerät und versuche, die Musik zu summen, während die Aufnahme in meinem Ohr spielt.
Du widmest dich also über Stunden dem Deep-Listening-Prozess, und daraus entsteht die Musik?
Das ist der erste Schritt. Und dann fange ich langsam an, die Field-Recordings in den Hintergrund zu verschieben. Ich fange an, die Lautstärke in bestimmten Teilen abzusenken und die Musik den Vordergrund einnehmen zu lassen. Das ist dann immer noch diese 25-minütige Aufnahme – ich zerschneide die nicht –, aber ich habe sie einfach an manchen Stellen lauter und dann wird sie entweder still oder geht langsam in Stille über und wird dann später wieder reingenommen. Ich verlagere diesen Batzen einer Aufnahme also nach unten und fange an, die Musik darüberzulegen. Das ist aber kein klar umrissener Prozess. Ich hatte auch schon Situationen, wo ich am Ende drei verschiedene Musikstücke aus einer Aufnahme gemacht habe.
Und verschiedene Momente innerhalb derselben Aufnahme können verschiedene Songs inspirieren?
Ja. Also eigentlich war es eher so, dass viele dieser Songs von Gesprächen mit den Busfahrern inspiriert wurden. Ein Typ redet zum Beispiel über Ojuelegba und wie sehr er es liebt und wie Ojuelegba niemals schläft. Ich suche dann in all diesen Field-Recordings die Energie, die damit resoniert, worüber er spricht.
Wie schaffst du es dann, dass die Musik zu dieser Energie passt?
Das war das Schwierige daran, der Versuch, diese Leute als Musiker:innen zu benutzen. Manchmal will ich, dass die Samples die Drums anführen – also ihre Stimmen reinbringen und dann ein paar Instrumente reinkommen lassen. Ich will, dass es sich anfühlt wie Ad-Libs, wie wenn eine der Aufnahmen etwas einbringt, was dann die Musik auslöst. Wie auf No Counterfeit, da man hört den Typen, wie er sagt: „another Ojuelegba is a counterfeit - nooo!” Ich loope das, und dann kommen die Drums rein. Es geht nur darum, mit diesen Elementen in den Soundscapes herumzuspielen und zu versuchen, Musik dafür zu machen.
Wie hast du das Ganze nah an Lagos gehalten? War es dir wichtig, die Musik nicht zu sehr dominieren zu lassen?
Mir war von Anfang an klar, dass die Stadt für mich immer sowas wie eine Komponistin ist, und ich dokumentiere ihre Kompositionen. Es ist also nicht so, als würde ich irgendwas an die Stadt richten. Stattdessen richtet die Stadt etwas an mich. Ich folge dem, ich höre der Stadt zu und lasse sie bestimmen, was ich mache. Jede Stadt ist auf ihre eigene Art eine Komponistin, aber was man hört, unterscheidet sich abhängig von Regeln und Bestimmungen. In Lagos haben wir keine Gesetze [gegen Lärmverschmutzung]. Oder zumindest werden sie nicht umgesetzt. Die Leute hupen also ständig und wie sie gerade Lust haben. Die Busfahrer:innen gehen los und kaufen Hupen, die irgendwie musikalisch klingen, um die Leute auf sie aufmerksam zu machen und in ihre Busse zu kriegen. Es gibt wirklich keinerlei Regeln dazu. Also versuche ich dasselbe, wenn ich meine Musik mache. Ich werde zum Musiker ohne Regeln.
Wie würdest du diese Alben beschreiben? Eher als ein privates Audio-Tagebuch, zu dem du den Zuhörenden Zugang gibst, oder ein öffentliches Orts- und Zeitdokument?
Ich würde sagen, beides. Bei Field-Recordings ist es so, dass man einen Ort vielleicht nicht ganz greifen kann, wenn man nicht da war, aber man bekommt durch das Gehörte schon eine Vorstellung davon, wie er sich anfühlt oder aussieht. Für jemanden, der [den Ort] kennt, ist das komplett anders. Die Field-Recordings werden eher zu einer Art Erinnerungs-Trigger für diesen Ort, an dem man mal war. Und das kann verschiedenste Gefühle hervorrufen. Ich weiß noch, wie ich mal eine Installation des Markts von Lagos in Washington DC gemacht habe, und diese Frau, die den Markt kannte, kam zu mir und meinte, „ich war nie wieder in Lagos, aber das bringt mich zurück auf diesen Markt. Und ich bin dadurch nicht nur physisch wieder auf dem Markt, sondern rieche auch [bekannte] Gerüche.” Das ist das Ding am Klang eines Ortes, er löst viele Sachen aus: Er transportiert einen, er ist immersiv, ist emotional.
Das ist wie eine Audio-Reise. Stellt der Klang eines Ortes die Fähigkeit der Zuhörenden infrage, sich unterschiedlichen Arten des Lebens und des Seins zu öffnen?
Es kommt echt drauf an, wie offen man für neue Erfahrungen ist. Manche Menschen sind offen, weil sie mit etwas Neuem konfrontiert sind – auch wenn ihnen [die Sounds] nicht gefallen oder die ihnen zu grob sind. Ich bin immer zutiefst davon beeindruckt, wenn Leute sagen „Wow, wir lieben deine Musik, wir lieben Lagos!” Aber es kommt auch auf die Stimmung an, in der man ist. Manchmal, wenn ich auf Reisen bin, bleibe ich im Hotel. Wegen Jetlag, oder einfach weil ich mich hinlegen und ausruhen will. Menschen sind emotional und Sound ist ein Medium, mit dem man diese menschlichen Emotionen provozieren und Reaktionen bekommen kann.
Ab welchem Punkt laufen Produzent:innen, die mit Field-Recordings arbeiten, Gefahr, einen Ort zu exotisieren? Wenn ich mich jetzt zum Beispiel von deiner Arbeit inspiriert fühlen würde, nach São Paulo zu gehen und die dortige Atmosphäre einzufangen und daraus ein Album zu machen, würde ich als jemand Ortsfremdes nicht auf jeden Fall riskieren, den Ort und seine Bewohner:innen zu exotisieren?
Das kommt darauf an, wie du damit arbeiten willst und was du erreichen und ausdrücken willst. Ich betrachte Field-Recordings mehr als etwas anthropologisches – in einen Ort eintauchen, um ihn zu erfahren. Die Musik kann einem dabei helfen, weil im Prozess des Musikmachens viel Zeit ins aktive Zuhören fließt, in den Versuch, Sounds zu erkennen und auszusuchen. Insofern taucht man anthropologisch ein, um den Ort zu begreifen. Das ist keine Exotisierung. Wenn man aber einen bestimmten Sound einfach nur nimmt, weil man findet, dass er cool klingt, zum Beispiel wenn eine [Fremd]sprache in der Musik vorkommt und man der dann besondere Betonung verleiht ohne zu wissen, was überhaupt gesagt wird, dann ist das Exotisierung.
Ich würde also sagen, dass deine Kunst die Zuhörenden quasi dazu einlädt, komplett in Interaktion mit einem Ort zu treten.
Es geht darum, dass man Respekt hat. Lagos ist meine Stadt, ich kann [Lagos] also jederzeit aufnehmen, weil ich weiß, was mich erwartet. An [neuen] Orten gehe ich jetzt nicht unbedingt am ersten Tag los und mache Field-Recordings. Ich gehe alleine raus, um zuzuhören. Ich will schauen, was meine Aufmerksamkeit erregt. Ich probiere gern neues Essen aus, deshalb gehe ich zum Beispiel in Open-Air-Restaurants oder zu Open-Air-Märkten, esse da etwas und schaue mir dann an, was um mich herum passiert. Viele Menschen verbringen den ganzen Tag hinter ihren Linsen, und wenn sie wieder zu Hause sind, gehen sie ihre Bilder durch und merken, was sie alles verpasst haben. Ich bin lieber voll und ganz anwesend, und manchmal erregt irgendwas mein Interesse und dann komme ich nochmal wieder und nehme das auf.
Und wie nimmst du diese Field-Recordings dann auf?
Ich versuche, diskret zu sein – aus zwei Gründen, die Lagos mir beigebracht hat: Zum einen kann es passieren, dass ein:e Busfahrer:in sieht, dass man aufnimmt, und dann beginnt die Person zu performen. Ich nehme sie aber lieber in ihrem natürlichen Zustand auf, ohne dass sie versuchen, dem irgendwas hinzuzufügen, weil sie performen und den Clown spielen wollen. Der zweite Grund: In Lagos patrouillieren an solchen Bushaltestellen bestimmte Leute, und wenn die sehen, dass man in ihrem Gebiet arbeitet, wollen sie ihren Tribut.
Deshalb mag ich binaurale Mikrofone echt gerne, solche mit Headset wie das Sound Professionals SP-TFB-2 oder das Soundman OKM II – weil die mir helfen, so diskret wie nur möglich zu bleiben. Mit meinen 1,98 Metern bin ich auffällig. Stell dir vor, du bist so groß und stehst einfach 20 Minuten lang mitten im öffentlichen Verkehr. Ich versuche, so gut es geht unterzugehen.
Als jemand, der Lagos gut kennt: Gibt es irgendwelche Sounds, die dich in Ojuelegba überrascht haben?
Was mich am meisten umhaut, sind die Stimmen der Händler:innen, und wie sie mit der Aussprache der Buslinien spielen. Das ist fast schon Freestyle-Rap, wie die mit den Worten spielen. Da passiert viel in der klanglichen Umgebung und die wollen Aufmerksamkeit auf sich ziehen, also müssen sie mit [den Worten] spielen. Wie wenn man hört, wie die Ikeja, einen Bezirk in Lagos, aussprechen, das klingt wie „Ikejakejakejakejakejaaa!" Sogar die Straßenhändler:innen singen ihre Worte: „Gala” ist so eine Art Wurstbrötchen, das die verkaufen, aber die Straßenhändler:innen schreien „Galagalagalagalaaa". Das wirft mich immer wieder um, wie die das machen.
Man nimmt das vielleicht gar nicht bewusst wahr, wenn man aufnimmt, weil so viel passiert. Aber wenn man sich das danach anhört, hört man es, und es ist so schön: die Stimme, der Pitch. Wenn ich persönlich ein Talent-Scout wäre, ich würde da hingehen und die finden, denn die Stimmen sind wirklich umwerfend.
Für mich war Oju 2.0 der Moment, den ich auf 6°30′33.372″N 3°22′0.66″E am meisten wertschätzen konnte. Ich konnte voll und ganz zuhören.
Ich find’s irgendwie schön, wie der Track sich da draußen gemacht hat. Ich bin sicher, dass das gleichzeitig der Track ist, den viele Leute wahrscheinlich skippen, weil sie Musik hören wollen, aber ich bin froh darüber, dass ich darauf nur Field-Recording-Tracks habe. Das geht wieder auf das zurück, was ich über die Stadt als Komponistin gesagt habe; dieses Album wurde von der Stadt geschrieben. Indem sie verschiedene Menschen an diesem Ort zusammenbringt und sie sein lässt, wer sie sind, ohne Angst davor, für ihre Art zu hupen belangt zu werden, oder fürs laute Musikhören oder wie sie versuchen, Bootleg-CDs zu verkaufen oder Fahrgäste in ihre Busse zu locken oder die Namen ihrer Waren laut rauszuschreien. Sie ist ein Ort, an dem Menschen sind, wie sie sind – gut beschäftigt.
Das schließt die Lücke zwischen deinen Klanginstallationen und deiner Musik. Ich hätte dich wahrscheinlich nicht gefunden, wenn nicht diese Alben gewesen wären.
Total. Deshalb bin ich auf so viele Arten echt froh, dass 6°30′33.372″N 3°22′0.66″E ein Erfolg wurde. Ich sage nicht, dass alle meine Album lieben, aber es hat mich auf mehr Ideen gebracht. Ich will jetzt zum Beispiel meine visuelle Kunst daran anschließen. Ich will eine Installation mit verschiedenen Projektionen machen, die einem eben diese Erfahrung ermöglicht [, dort zu sein]. Ich habe ein paar Kameraleute beauftragt, die Ojuelegba zur Zeit zu verschiedenen Tageszeiten und aus verschiedenen Winkeln zu filmen. Wir werden sehen, was dabei rauskommt. Ich will die Dinge am Laufen halten.
Text und Interview: Joseph Francis
Übersetzung: Julia Pustet