Dudu Marote: Kulturkannibale
Unsere Artikelserie über Brasilien startete vorige Woche mit unserer erklärten Lieblingsmusik der letzten Jahrzehnte aus diesem Land. Bevor wir im dritten und letzten Teil die aktuelle musikalische Landschaft Brasiliens erforschen werden, spricht Mark Smith im Folgenden mit einem Musiker, der wie kein anderer zwischen Tradition und Gegenwart der Música Popular Brasileira vermittelt: Dudu Marote.
Obwohl Brasilien mehr als 200 Millionen Einwohner zählt, gelingt es seiner Musikszene immer noch, sich etwas Inselhaftes zu bewahren. In den 80er und 90er Jahren, als das Internet-Zeitalter noch nicht begonnen hatte, waren brasilianische Elektronikproduzenten mit entschieden regionalem Credo aktiv. Ihre Musik wies zwar Spuren internationaler Genres auf – House, Dancehall oder Jungle – doch diese Elemente dienten eher als formbares, am Ende kaum noch erkennbares Material, das in der Summe zu etwas Anderem wurde: Musik von Brasilianern für Brasilianer.
Dass dies so passierte, war kein Zufall. Die Musikszene war von Künstlern geprägt, die internationale Impulse mit der lokalen Kultur verknüpften und damit die Evolution der elektronischen Musik in Gang setzten. Dudu Marote ist einer dieser Wegbereiter – seit mehr als 20 Jahren. Er hat Bossanova mit Drum-and-Bass und Dancehall mit Pop vermählt und steht hinter so mancher Innovation, die auch heute noch große Wirkung auf die brasilianische Musik hat. Wir sprachen mit ihm über die Meilensteine seiner Karriere und über Produktionstechniken, die ihn besonders inspirieren.
Du giltst als Produzent des allerersten HipHop-Albums aus Brasilien. Welchen Einfluss hatte deine Heimat zu Beginn deiner Karriere auf deine Musik?
Ich bin ein Paulistano, durch und durch. São Paulo ist eine riesige und komplizierte Stadt mit mehr als 20 Millionen Einwohnern, bewegt sich also in derselben Liga wie chinesische oder indonesische Megastädte. Total chaotisch und voller Leben – jede Nacht gibt es Parties, es passieren tausend Dinge und es gibt dort jede Musik, die man sich vorstellen kann.
Ich wurde in São Paulo geboren und habe immer dort gelebt. Mit dem Musik machen ging es in den 80er Jahren los, heute bin ich 49. Meinen ersten Synthesizer kaufte ich 1980, als ich 15 war. Das war ein Yamaha CS 5 – und das Tolle war, dass das Teil keinen Speicher hatte. Ich musste also mit 15 alles lernen – die Funktionsweise der Oszillatoren, Filter und Modulatoren. Meine erste offizielle Produktion war tatsächlich das allererste brasilianische HipHop-Album. Aus heutiger Sicht ist es wirklich naiv. Gewissermaßen reflektierten wir das, was damals – 1989 – bei uns ankam. In Brasilien gab es damals nicht mal MTV, das begann erst ein Jahr später. Internet gab es natürlich auch noch nicht. Wir kannten kleine Schnipsel von Run DMC und Public Enemy und spiegelten diese aus der Perspektive brasilianischer Realität. Damals nutzte ich einen Atari ST, Notator und viele Hardware-Sampler.
Das war der Einstieg, und kurze Zeit später produzierte ich eine Platte, die von manchen als erstes brasilianisches Dance-Album bezeichnet wird. Die Band hieß Que Fim Levou Robin – ein Mix aus Technotronic und brasilianischem Feuer. Die portugiesischen Lyrics waren sehr aggressiv und halfen der Schwulenszene dabei, den ganzen Vorurteilen entgegenzutreten, die Anfang der 90er gang und gäbe waren.
Du hast von Beginn an nicht nur Musik produziert, sondern warst auch anderweitig aktiv.
Damals arbeitete ich bei Roland und hatte Zugang zu allen neuen Keyboards – z. B. D-50 und die Roland-Sampler. Für die S-760- und S-770-Sampler wurden brasilianische Libraries produziert und ich half Roland bei der Zusammenstellung. Dabei arbeitete ich mit dem Sohn des Roland-Firmengründers Ikutaro Kakehashi zusammen. Er kam zu mir nach São Paulo und wir reisten zusammen in andere brasilianische Städte, um traditionelle Klänge für die Roland-Sampler aufzunehmen. 1990 lernte ich John Klein von MTV London kennen, einen US-Amerikaner. Er kam nach Brasilien, um MTV Brazil auf den Weg zu bringen. Ich habe ihn dabei unterstützt – und auch die Musik für den ersten MTV-Videoclip in Brasilien gemacht.
Mit deinem Namen verbindet man auch die ersten Dancehall-Rhythmen in der brasilianischen Popmusik – eine Kombination, die ausschlaggebend für das ist, was wir heute unter dem „Brasilianischen Sound“ verstehen.
Meinen ersten Rave besuchte ich 1993 in Kingston, Jamaika, einen Dancehall Ragamuffin Rave. Damals war dieser Stil elektronischer Musik sehr angesagt – Bhangra – gleichzeitig in Großbritannien, Indien und Jamaika. Das war noch vor Jungle. Manchmal hieß der Style auch Dancehall, seine Wurzeln lagen aber in Indien. Ich war ziemlich begeistert davon, doch auch von Dancehall, und nach diesem großen Rave in Kingston bin ich komplett in diesen Sound eingestiegen.
Dann traf ich andere Brasilianer, die auch darauf standen… eine neue Band namens Skank. Wir hatten die gleiche Wellenlänge. Sie wollten diesen Sound machen, hatten aber nicht die beste Technik, um das zu realisieren. Aber ich hatte sie – und deshalb wurde ich ihr Produzent. Ich machte einen Remix für einen Track ihres ersten Albums, zusammen mit einem Freund aus Jamaika. Zur selben Zeit wurde Jungle sehr erfolgreich, kurz nachdem The Prodigy „Out of Space“ veröffentlicht hatten. Der Track, den wir remixten, hieß „Baixada News“ – und es war ein Jungle-Remix. Skank fanden ihn toll und engagierten mich auch für ihr zweites Album Calango. So reiste ich nach Rio und befasste mich in einem der besten Studios Brasiliens – Nas Nuvens, das bedeutet „in den Wolken“ – zwei Monate lang nur mit diesem Album. Es wurde sehr Dancehall, sehr Reggae, aber auch sehr brasilianisch – ein Mix aus brasilianischem Vibe, Reggae und Dancehall, doch sehr elektronisch. Das Album kam im Juli 1994 heraus; 1,2 Millionen Exemplare wurden verkauft. Wenn man den damaligen brasilianischen Markt in Relation zum US-Markt setzt, bedeutet das 10 Millionen verkaufte Exemplare. Das Album enthielt sechs Radio-Hits und war deshalb mega-erfolgreich.
Danach hast du zunächst Drum-and-Bass produziert und dann deine Liebe zum House entdeckt. Du holst dir Einflüsse von außen, wendest sie auf deinen Kontext an und ziehst dann regelmäßig weiter zur nächsten Inspiration – in einer Art und Weise, die sehr systematisch wirkt.
In Brasilien sind wir wie Kannibalen. Brasilianer sind wie Kannibalen in der Kultur. Wir essen und geben das Essen wieder von uns. Bei allem, was wir gemacht haben, war das so – essen, verdauen, hochwürgen, auf unsere eigene Art. Drum-and-Bass mit Bossanova, Dancehall mit Brazil-Flair und so weiter – wir machten House mit funky Elementen und verknüpften das mit brasilianischem Vibe, doch nicht in musikalischer, sondern in textlicher Hinsicht. 2014 sprechen viele Brasilianer Englisch, doch damals in den 90er Jahren und Anfang der 2000er war das noch anders.
Für uns ist es wichtig, unsere Lebenswirklichkeit jederzeit über die Sprache in die Musik zu bringen. Wir wollen uns damit beschäftigen und machen deshalb eigene Versionen. Es ist nicht so wichtig, was andere Leute darüber denken. Wenn internationale Hörer unsere Musik lieben, ist das toll. Wenn nicht: kein Problem. Es geht nicht darum, in Europa oder in den USA berühmt zu werden. Großbritannien, die USA, Australien und Kanada – diese Länder haben alle eine Verbindung. Wir Brasilianer haben keine Verbindung. Brasilien dreht sich um Brasilianer. Wir könnten vielleicht mit Portugal verbunden sein, doch das ist nicht der Fall. Brasilien ist einfach Brasilien.
Was fasziniert dich heute am Produzieren? Freut es dich nach zwanzig Jahren immer noch, wenn du etwas dazu lernst?
Zur Zeit stehe ich sehr auf Distortion. Vor kurzem war ich in Frankreich und habe einen „Mix with the Masters“-Kurs besucht, der von Tchad Blake geleitet wurde, dem genialen Produzenten von Black Keys und Arctic Monkeys. Ich war eine Woche lang bei ihm und Manny Marroquin: ein weiterer fantastischer Toningenieur, der zusammen mit Kanye West Mixdowns macht.
Die Arbeitsweisen dieser Leute lassen sich auf jede Art von Musik anwenden. Sie brachten mich auf die Idee, weniger Hall und mehr Verzerrung zu nutzen. Distortion statt Reverb – Verzerrung, als Atmosphäre gedacht. Kompressoren wie den 1176 nicht nur zum Komprimieren verwenden, sondern auch als Elemente, die den Sounds Charakter geben und sie rauher machen – so als ob man seine Fingernägel in einen Basketball drückt, dieses kratzige, taktile Feeling. Das fasziniert mich gerade.
Das ist ein interessantes Konzept: den Eindruck von Räumlichkeit durch Obertöne zu erzeugen – anstatt durch Reverb-Plug-ins, die einfach nicht anders klingen können als ein künstliches Abbild von Raum.
Das ist mir gerade sehr wichtig. Und es gibt noch etwas anderes: die elementaren Grooves finden und festnageln. Egal mit welchen Künstlern ich zusammen arbeite, mit welchem Instrument oder welcher Aufnahme: Ich verschiebe alles. Ich schiebe ständig die Clips herum – nicht immer im Warp-Modus, sondern eher hinsichtlich der Phrasierung. Die HipHop-Kultur gibt es jetzt seit 35 Jahren und ihr Einfluss, ihr Groove ist allgegenwärtig, selbst wenn man keinen HipHop produziert. Sie ist ein Teil von uns allen, genau wie Rockmusik.
Als HipHop populär wurde, veränderte er den gesamten Groove der Popmusik. Das begann schon mit Michael Jackson. Manchen Leuten ist gar nicht bewusst, dass sein Gesang nicht exakt im Takt ist, er singt nicht tight auf den Downbeat. Um die Musik mit der Sprache der jeweiligen Kultur zu verbinden, muss man die Dinge immer ein wenig verschieben und konstantes Nudging betreiben, bei jedem musikalischen Element. Man muss es in ein Raster bekommen. Damit meine ich weniger das Quantisieren – das ist nur der Anfang. Wenn ich Sounds warpe, denke ich gar nicht an Quantisierung, weil es keinen „richtigen“ Groove für Tracks gibt. Ob ein Groove der richtige ist, fühlt man körperlich und instinktiv. Am nächsten Tag kann sich das schon wieder ändern. Deshalb muss man stets sensibel dafür sein und immer nach dem Gleichgewicht suchen.