Deena Abdelwahed: Große Erwartungen
Deena Abdelwahed, geboren in Quatar, zog mit 18 Jahren nach Tunesien, wo sie unter der Anleitung des World Bass Collectives das Auflegen lernte. Später zog sie nach Paris, wo sie Teil der multidisziplinären Künstler:innen-Plattform Arabstazy wurde. Die DJ und Produzentin reiste durch Europa und die arabische Welt, spielte improvisierte Liveshows und beschloss schließlich, sich auf ihr eigenes Soloprojekt zu konzentrieren.
Der Release von Abdelwaheds Debüt-LP Khonnar im Jahr 2018 kombinierte auf konfrontative Art schmutzigen Techno und industrielle Clubsounds, gemischt mit synthetischen arabischen Instrumenten und Texten, die größtenteils auf tunesischem Arabisch gesungen wurden. Die düsteren, beschwörenden Klänge demontierten die Mystik, die der nordafrikanischen Musik oft zugeschrieben wird, und widmeten sich Themen der sozialen Ungerechtigkeit im Kontext einer pro-demokratischen Jugendbewegung.
Fünf Jahre später versucht Abdelwahed mit ihrem dritten Album Jbal Rsas, das Epizentrum der zeitgenössischen elektronischen Musik durch das Erkunden neuer globaler Topographien noch weiter zu verschieben. Sie greift traditionelle Klänge aus dem arabischen Raum in elektronischer Form wieder auf und schafft mit fesselnden Club-Konstruktionen eine innovative Soundwelt voll von klanglichen Möglichkeiten.
Wie begann deine Arbeit mit dem Pariser Arabstazy-Kollektiv?
Ich arbeitete als DJ mit dem World Full of Bass Kollektiv. 2015 kam ich dann zu Arabstazy, was quasi der Name einer Veranstaltung in Frankreich war. Weil sie meine Musik mochten, fragte ich sie, ob sie mir bei meinen Kompositionen helfen könnten und begann, bei ihren gemeinsamen Live-Sets mitzumachen. Es war spannend, mit Leuten zusammenzuarbeiten, die ein bisschen mehr Erfahrung hatten als ich und die mir helfen konnten, meinen Sound zu entwickeln. Sie verstanden, woher ich kam, und das gab mir ein wenig Selbstvertrauen.
War damals deine Hauptmotivation, als DJ oder Produzentin zu arbeiten?
Ich begann in Tunis als DJ, lernte das Auftreten und wurde relativ bekannt für Clubmusik, die nicht unbedingt eine direkte Beziehung zur arabischen Musik hatte. Ich habe versucht, den Leuten mit Baile Funk, Juke, Footwork und anderen globalen Subgenres zu zeigen, dass es in der Clubmusik mehr als nur konventionellen Techno und House gibt. Traditionelle Musik wie Baile Funk war noch unbekannt, und als ich sie auf den Dancefloor brachte, lernten die Leute die Instrumente und die traditionellen Aspekte der Musik kennen. So fing alles an, und wenn ich jetzt auflege, versuche ich immer noch, diese traditionellen Musikformen weiterzuentwickeln.
Hast du den Eindruck, dass das Publikum sich von dir distanziert, wenn du arabische Musik in einer traditionellen Clubumgebung auflegst?
Ich habe das Gefühl, dass es eine Art globales Gedächtnis gibt, durch das die Leute es gewohnt sind, synthetische Klänge immer direkt mit westlicher zeitgenössischer Musik gleichzusetzen. Die große Herausforderung, mit der ich und ähnliche Produzent:innen konfrontiert sind, besteht darin, dass es nur auf die Wahrnehmung ankommt: Während jemand anderes meine Musik als Fusion wahrnimmt, betrachte ich sie eher als arabische Musik mit synthetischen Klängen. Die Grundidee hinter meinen Kompositionen ist, dass das Skelett der Musik, sowas wie die rhythmischen und melodischen Muster, arabisch ist, die Musik aber mit westlichen Werkzeugen, Samples oder einer DAW wie Ableton gemacht wird.
Die meisten Produzent:innen, die ein Musikgenre adaptieren wollen, verwenden traditionelle Musik als eine Art Einstieg, bei dir scheint es aber andersrum zu sein?
Es ist nicht gerade einfach, generische arabische Musik zu machen, weil die Szene sehr groß ist und es eine solche Vielfalt an Elementen, Rhythmen und Melodien gibt. Zum Beispiel verstehen die Leute in der Golfregion die tunesische Musik nicht, weil sie den Sound oder den Dialekt nicht verstehen. Es gibt Künstler wie Acid Arab, die spannend arbeiten, weil sie sehr geschickt mit Sequenzern und Drummachines umgehen. Im Arabischen ist Dom der Bass und Tak die Snare, also kann die Basis der arabischen rhythmischen Musik vereinfacht werden als dom, dom, tak, tak, dom, tak tak, und Acid Arab ist sehr gut darin, diese ägyptischen Rhythmen in einen Sequenzer oder eine Drum-Maschine zu packen und ein Sound-Skelett zu bauen, das die Muster der algerischen Musik respektiert, wo alles außer dem Bass oder dem Kick gesampelt wird. Auch der tunesische Produzent Ammar 808 arbeitet seit etwa fünf Jahren mit der gleichen Idee. Diese Künstler inspirieren mich so sehr, weil meines Wissens nicht viele andere Produzenten das tun, was wir tun, und es fühlt sich an, als wären wir eine Gemeinschaft.
Hast du neben der musikalischen auch eine Motivation, bestimmte kulturelle Mentalitäten aufzubrechen?
Das ist meine größte Motivation – ich möchte zeigen, wie traurig es ist, wenn Menschen sich für modern und intellektuell halten, nur weil sie der dominanten Kultur anhängen. Während der islamischen Kreuzzüge in den 600er Jahren wurde im Norden Afrikas, in Tunesien, Algerien und Marokko, die Hauptsprache, das Amazigh (oder das, was die Leute Berber nannten), verdrängt, aber nicht mit Gewalt - es war eigentlich eine sanfte, oder auch kulturelle Kolonisierung. Um an der zeitgenössischen Kultur und Wissenschaft teilhaben zu können, mussten die Menschen die Sprache des Kolonisators oder derjenigen sprechen, die die neue Religion ausriefen, in diesem Fall Arabisch. So wurde ihnen nach und nach ihre Sprache und kulturelle Identität zugunsten der Moderne genommen, und genau das passiert jetzt mit uns in der westlichen Welt, wenn auch auf eine gewalttätigere und feindseligere Art und Weise, denn wenn man kein Englisch oder Französisch spricht, bekommt man nicht einmal einen Job. Deshalb finde ich, dass Leute, die in Clubs gehen und sich für aufgeschlossen halten oder denken, dass sie besser sind als Leute, die arabische Musik hören, eigentlich das Gegenteil sind.
Dein erstes Album Khonnar war ziemlich düster. Vielleicht ein Hinweis auf deine eigenen aufgestauten Frustrationen und philosophischen Ansichten zu dieser Zeit?
In der Popmusik aus dem arabischen Raum geht es meistens um Liebe oder um andere individualistische Themen, aber ich hatte nicht das Gefühl, dass solche Musik für die tunesische Öffentlichkeit spricht. Ich wollte Menschen repräsentieren, die die Nase voll haben von der Frauenfeindlichkeit in einer Gesellschaft, die sich irgendwie als unser Beschützer aufspielt. Das Land hat nur 12 Millionen Einwohner, aber es gibt eine Kluft zwischen Menschen, die sehr verschlossen sind, und Menschen, die politisch und kulturell liberal sind. Unmittelbar nach der Revolution von 2018 waren alle euphorisch - ein Vorhang ging auf und die Komplexität der Gesellschaft lag vor aller Augen auf dem Tisch. Wir haben uns alle gegenseitig beobachtet und voneinander gelernt, und ich wollte diese Emotionen durch die Musik zum Ausdruck bringen.
Kannst du uns etwas über dein neues Album Jbal Rsas erzählen, und über deinen Versuch, dir die arabische Tanzmusik wieder anzueignen?
Für das Album habe ich mit YouTube gearbeitet und mit vielen Freunden gesprochen, die mir geholfen haben, die beste Musik aus vielen verschiedenen Regionen wie Tunesien, Ägypten, Irak, der Golfregion, Libanon und Palästina genau anzuschauen und zu adaptieren. Jeder Track spielt mit einzelnen Mustern oder Rhythmen, die für diese Regionen stehen. The Key to the Exit zum Beispiel, der erste Track, basiert auf einem ägyptischen Rhythmus namens Maqsoum, der zum Mahraganat-Genre gehört. Aber der Schmelztiegel der Klänge ist nicht nur dadurch definiert, sondern es geht auch darum, wie ich, Deena, arabische Muster und solche aus der Clubmusik mit globalen und synthetischen Klängen kombiniere.
Wenn die Idee ist, dass jeder Track einen anderen Musikstil aus bestimmten arabischen Regionen repräsentiert, wie zeigt sich das auf dem Album?
Der zweite Track, Each Day, basiert auf einem tunesischen Fadzani-Rhythmus. Da ich Tunesierin bin, wollte ich den entsprechenden Gesangsstil imitieren, weil ich das Gefühl hatte, dass ich ihn beherrsche. Six as Oil und Naive basieren auf Dabke, einem beliebten arabischen Folkloretanz, Complain ist Ruboa aus dem Irak, und Violence for Free basiert auf einer Form der algerischen Volksmusik namens Rai. Der letzte Song, Pre-Island, stammt aus der Golfregion. Er basiert auf einem folkloristischen kuwaitischen Lied aus den 60er Jahren namens Music of The Tailors, obwohl die Originalversion eigentlich viel älter ist. Ich habe die von YouTube heruntergeladen und mochte den Groove und die Melodie so sehr, dass ich sie zerschnitt, studierte und einen Loop daraus machte.
"Die Grundidee hinter meinen Kompositionen ist, dass das Skelett der Musik, sowas wie die rhythmischen und melodischen Muster, arabisch ist, die Musik aber mit westlichen Werkzeugen, Samples oder einer DAW wie Ableton gemacht wird."
Mit welchen Techniken hast du gearbeitet, um die entdeckten Samples neu zu arrangieren?
Die gefundenen Samples habe ich in die Arrangement-Ansicht von Ableton gelegt, um einen Überblick zu bekommen. Wenn ich dann zum Beispiel einen Sound hatte, der einen Dom oder eine Kick repräsentierte, habe ich den Rhythmus rausgezogen und mir den Groove in der Sample-Ansicht genau angeschaut. Anstatt einen Rhythmus nach Gehör zu erstellen, habe ich die Patterns visuell mit Hilfe von MIDI gezeichnet, das mit einem Drum-Element auf einem meiner Synthesizer verbunden war, aber der Prozess darf nicht zu abstrakt sein, denn wenn man etwas aus dem Pattern herausnimmt, das man nicht haben sollte, klingt es nicht mehr richtig. Auch hier war der Prozess ein bisschen wie in der Architektur - ich habe das Pattern gezeichnet, einen A/B-Test gemacht, um es mit dem Original-Sample zu vergleichen, und sobald sich der Groove gut anfühlte, habe ich den Song aus dem modifizierten Pattern konstruiert, wobei ich den EQ benutzte, um herauszufinden, wo ich tonal hinwollte.
Interpretierst du Rhythmen neu, um die Freigabe von Samples zu vermeiden, oder weil du dadurch ein grundlegend besseres Verständnis für verschiedene rhythmische Strukturen bekommst?
Es geht nicht um Freigaben oder Urheberrecht, sondern eher um meine persönliche Motivation, sich arabische Musik wieder anzueignen. Einer der Gründe, warum die Menschen der elektronischen Musik so nahe stehen, ist ihre Fähigkeit zur Klanggestaltung, die man mit einer Darabuka-Trommel oder einem Handinstrument nicht so hinbekommt. Wenn ich die Rhythmen erst einmal gezeichnet habe, möchte ich die Freiheit haben, die Rhythmen durch Sounddesign zu färben oder sie futuristischer klingen zu lassen.
Es gibt ja heute fantastische Softwarebibliotheken mit Samples aus aller Welt. Hast du irgendwann daran gedacht, mit sowas zu arbeiten?
Das ist nicht so mein Gebiet, ich begebe mich lieber auf unbekanntes Terrain und erzeuge Sounds, die es so noch nicht gegeben hat. Es ist nicht so, dass diese Bibliotheken oberflächlich sind, sie sind oft akademisch, klassisch und konventionell, und viele Leute brauchen VSTs, um so eine Art von Musik zu machen. Die Musik von Bashar Suleiman zum Beispiel ist kurdisch/syrisch und ein echter Dabke, aber sie wird synthetisch mit VSTs gemacht, die die Instrumente imitieren, und ein großer Teil der arabischen Tanzmusik, vor allem der ägyptischen, wird ebenfalls mit Computern gemacht. Es ist selten, dass ich überhaupt ein Hardware-Instrument benutze, aber ich habe eine Elektron Drum Machine und einen Prophet Rev2 für Basslines.
Gibt es bei einem Track wie dem fantastischen Each Day eine bestimmte Geschichte hinter deinem Gesang?
Das ist ein Dialog, den ich mir ausgedacht habe. Ich habe mich in die Lage von gelangweilten jungen Tunesiern versetzt, die glauben, dass ihre einzige Hoffnung darin besteht, nach Europa zu gehen und dort zu leben. Tätowierungen zu haben, schwul zu sein oder Künstler sein zu wollen gilt in der tunesischen Gesellschaft als komplett verrückt. Aber zu migrieren ist keine einfache Lösung, es ist sogar sehr schwierig. Als Künstlerin, Homosexuelle und Atheistin war es für mich gefährlich, in Tunesien zu leben. Letztendlich geht es darum, wie viel man in dieser Kultur aushalten kann, und ich hatte das Gefühl, dass ich in Tunesien keine Chance hatte, wenn ich beruflich Musik machen wollte.
Text und Interview: Danny Turner
Fotos: Eigentum von Yassine Meddeb Hamrouni