Obwohl sein Name in der Musikwelt sicher nicht zu den geläufigsten gehört, so ist die Karriere des Produzenten Craig Leon eine der vielseitigsten überhaupt. Als mitbestimmende Figur des frühen US-Punk und der New Wave-Szene war er verantwortlich für die Entdeckung und Entwicklung solch wichtiger Bands wie The Ramones, Blondie oder Talking Heads. In seinem Produktionskatalog findet sich Suicides 1977er Debut-Album ebenso wie Richard Hell and the Voidoids' Blank Generation; neben Alben der Pogues, der Bangles und der Go-Betweens.
Auch mit seinen eigenen Veröffentlichungen beschreitet Leon seit jeher einen unverwechselbaren Weg. Nommos, das Solo-Debut von 1981, fand bei Erscheinen kaum Beachtung, doch das Gemisch aus zerklüfteten elektronischen Perkussions und wässrig immersiven Electronics war in Wahrheit seiner Zeit um Jahre voraus. Seit seiner Wiederveröffentlichung 2014 wird das Album nun zu Recht als Proto-Techno-Meisterwerk gefeiert.
In den letzten 25 Jahren betätigte sich Leon hauptsächlich auf dem Gebiet der Klassik. Der ausgebildete Konzertpianist ist vielfach gefragt – als Arrangeur, Produzent und überaus geschätzter Ton-Ingenieur. Sein jüngstes eigenes Projekt schafft einen beeindruckenden Spagat zwischen den weit verstreuten Punkten seiner Karriere und der Musikhistorie: Barockmusik des 17. Jahrhunderts trifft hier auf analoge Synthesizer-Technik der 1960er Jahre. Wir trafen uns mit Craig Leon nach seiner Nommos-Performance in Berlin und sprachen mit ihm über den Live-Betrieb seiner Electronics, über Dogon-Mythologie und über die Gemeinsamkeiten von J.S. Bach und Johnny Ramone.
Welche Sachen hast Du damals für die Produktion von Nommos benutzt und wo lagen die Herausforderungen bei der Neuinterpretation, über 30 Jahre später, für die Bühne?
Als ich erstmalig gefragt wurde, ob ich dieses Stück nicht noch einmal machen wollen würde, dachte ich über ein System nach, mit dem ich einige der früheren technischen Probleme umgehen könnte. Und es sollte natürlich spielbar sein, ohne zehn modulare Synthesizer dabei haben zu müssen. Nommos wurde ursprünglich mit Modularsynthies und ganz simplen polyphonischen Synthesizern realisiert. Die Sounds entsprangen reiner Handarbeit. Sequenzer oder digitale Technik spielten überhaupt keine Rolle. Es gab aber eine sehr rudimentäre Version des Linn Drum als Rhythmus-Quelle. Und wenn ich rudimentär sage, dann meine ich den Prototypen, der noch nicht mal gelabelt war. Roger Linn hatte zu der Zeit gerade damit begonnen. Er borgte ihn mir und ich nutzte ihn für das Album.
Mit der Linn spielte ich Spur für Spur live auf Band. Ich wusste erst mal gar nicht, damit umzugehen. Es gab ja keine Bedienunsanleitung, nicht mal das Gerät selbst war beschriftet. Aber ich verstand, dass man alle vier Takte ein Pattern setzen kann, das sich loopen lässt. Und das war eigentlich genau das, was ich haben wollte. Ich wollte diese afrikanisch beeinflussten Loops, die sich über vier Takte erstrecken und dann durchlaufen. So konnte ich etwas darüber spielen und den Charakter jederzeit verändern. Dadurch entstand das eigentliche Perkussion-Gerüst, das ich anschließend bearbeitete.
Für die Performance erstellte ich letztlich Loops aus den originalen, bearbeiteten Drum-Loops. Über diese Loops spielen wir live unsere Sachen. Ich wollte sie gern gerade ziehen, weil ich damals nichts quantisiert hatte. Es war alles per Hand eingespielt und dementsprechend wackelig. So ist es ja auch auf Platte und daher kommt auch dieser Charme einer Live-Performance, den ich schon beibehalten wollte. Aber ich wollte in der Lage sein, es kontrollieren zu können, jedesmal wenn wir live spielen. Das Warping in Live ermöglichte es mir, diese feinen Nuancen ausfindig zu machen. Ich setzte an den entsprechenden Stellen visuelle Marker, so dass ich beim Dirigieren wusste "jetzt bin ich bei 112.3 BPM". Die meisten meiner Tracks in Live haben als Führung solche visuellen Marker.
Ich warpe also meinen Click-Track. Da er sich an den originalen Analog-Loops orientiert, geht der Click immer ein bisschen hoch und runter; er läuft nicht konstant... Gehen wir mal von einer bestimmten Sektion über 30 Takte aus. Oder 60 Takte, irgendwas in der Art. Dann schwankt der Click dort vielleicht zwischen 111 und 113 BPM. Das ist zwar nur sehr subtil, aber für mich ist es genau das, was die ganze Sache in einen auf- und abschwellenden Fluss bringt. Es hat dadurch mehr von einer Hörerfahrung als von einem Groove-Erlebnis.
Nommos klingt wie keine andere Musik, die aus dieser Zeit stammt. Was war eigentlich die anfängliche Inspiration für die Stücke auf dem Album?
Die Stücke waren von einem afrikanischen Volksstamm, den Dogon, inspiriert. Heute beschäftigen sich eine Menge Leute damit, aber 1973, als ich erstmals mit Dogon-Kunst in Berührung kam und mich entschied, darüber eine Platte zu machen, nahm davon kaum jemand Notiz. Die Dogon glauben an diese Wesen, die von einem fremden Planeten aus einem anderen Sonnensystem kamen und ihnen alles über das Leben und die Zivilisation beibrachten. Wie man fischt und jagt, wie man Häuser baut, solche Sachen eben. Aber das beschreibt es nur sehr unzulänglich. In Wahrheit erschufen sie ein enorm komplexes philosophisches und religiöses System, das, wenn man sich genauer damit beschäftigt, einem zwangsläufig vor Augen führt: "Ach du meine Güte! Das hier sind tatsächlich die Wurzeln des alten Ägyptens!" Es ergibt auch geografisch gesehen Sinn [Die Dogon leben in Mali, West Afrika]. Ihre reichhaltige Kultur beantwortet nahezu alles, was man schon immer über diese Typen von fernen Planeten wissen wollte. Die Dogon nannten sie Nommos. Sie waren sehr groß und von länglicher Statur, konnten im Wasser und an Land leben und kamen aus einem ganz bestimmten Sternensystem, das die Dogon in Sirius verorteten. Fakt ist, dass sie es schon akurat als Doppelsternsystem beschrieben, lange bevor irgend jemand wusste, wie Sirius tatsächlich aussieht.
Craig Leons 1981er Album speist seinen Namen und seine Inspiration aus der Mythologie des Dogon-Volkes in Mali
In den zurückliegenden Jahrzehnten hast Du sehr viel im klassischen Bereich gearbeitet. Wirkt sich das jüngste Interesse an Deinen elektronischen Kompositionen in irgend einer Art darauf aus?
Ich bin ein überzeugter Anhänger von orchestralen Strukturen mit eingebetteten Synthesizern. Die Klassik-Labels, mit denen ich arbeite, erlauben mir dank Nommos mittlerweile, mehr meiner eigenen Projekte zu realisieren. Als ich auf dem Moogfest war, alberte ich mit meinem Kumpel Malcolm Cecil bezüglich mancher Idee herum. Er is einer der Gründerväter des Moog und war ein Teil von Tonto's Expanding Head Band. Außerdem spielt er einen ganz fabelhaften Jazzbass. Wir sprachen darüber, Orchesterinstrumente durch den Moog laufen zu lassen und spulten uns gegenseitig hoch. Und wir bekamen mit, dass das 50jährige Jubiläum des Moog Modular anstand, ebenso wie der zehnte Todestag von Bob Moog. Also sagten wir uns: "Lass uns anlässlich dieser runden Jahrestage ein Album machen." Ich ging damit zu Sony Classical und sie meinten: "Gut, könnt ihr vielleicht irgendwas mit Bach machen?". Diese Frage war eigentlich logisch, wenn man an den Erfolg von[Wendy Carlos’]Switched on Bach zurück denkt. Ein Album, das fast jeder zuhause hat, mich eingeschlossen, und das den Leuten klar machte, was ein Synthesizer ist und was man mit ihm anstellen kann. Und so kam es letztlich zu Bach to Moog.
Craig Leon mit dem Moog System 55 Modular Synthesizer
Bach to Moog ist ja nun nicht das erste Album, auf dem Bachs Musik elektronisch instrumentiert wurde. Woran liegt es denn, dass seine Kompositionen für elektronische Interpretationen anscheinend prädestiniert sind?
Bach ist der ultimative Sequenz-Künstler. Monophone Loops, die ineinander greifen und in der Regel einen opulenten Remix erzeugen... denn nichts anderes ist eine Fuge. Ich wollte auf keinen Fall Switched on Bach, Teil Zwei machen. Das würde einfach nicht funktionieren. Es ist ein Klassiker, daran vergreift man sich besser nicht. Ich habe von Leuten gehört, die versuchen, Switched on Bach live aufzuführen. Zwanzig Leute, die einen Moog spielen. Das macht doch überhaupt keinen Sinn. Was Wendy Carlos gemacht hat, war wegweisend und lässt sich nunmal nicht wiederholen. Ich wollte etwas mit Bach anstellen, das meinem Weg entspricht. Ganz ähnlich wie bei Nommos: Nimm Bach, arrangiere ihn auf orchestralem Weg neu und schicke die Orchesterinstrumente anschließend durch den Moog. Spiele parallel dazu an gewissen Stellen einige monophone Linien als Bestandteil des Arrangements, bis zu dem Punkt, an dem sich der Moog mit dem Orchester vereint. Die grundsätzliche Idee ist, einen Dialog zwischen einem Solo-Instrument – in diesem Fall einer leicht bearbeiteten Violine – und dem Moog als klassischem Instrument zu schaffen. Und es steht erst dann, wenn alles durchtränkt ist und die Grenzen verschwimmen. Nicht, wenn es offensichtlich nach Moog klingt und auch nicht, wenn es augenscheinlich nach Orchester klingt.
„Bach ist der ultimative Sequenz-Künstler. Monophone Loops, die ineinander greifen und in der Regel einen opulenten Remix erzeugen... denn nichts anderes ist eine Fuge.”
Wie erreichst Du die richtige Mixtur aus orchestralen und synthetischen Klängen?
Das wirklich Tolle an den alten Moog-Modellen, wie dem Modell 55, das Wendy Carlos tadellos beherrschte, ist das starre Frequenzfilter-System mit seinen festgesetzten Frequenzen. Ich kann damit für die richtige Intonation sorgen, so, dass sich die Streicher- und Flötensounds mit allen anderen Elementen verdichten. Das hat dann tatsächlich etwas von einem orchestralen Mix.
Ich habe diese geschichteten Sounds aus einem Violinen-Mikro gezogen. Jeden einzelnen mit einer unterschiedlich extremen Frequenzanhebung. Am Ende hatte ich acht bis zehn Tracks, die dann auf einen verbleibenden Layer gebracht wurden.
Und verrückterweise ist es genau das, was ich schon auf dem ersten Ramones-Album beim Gitarrensound gemacht habe. Schicht für Schicht unterschiedlichster Mitten, mit scharfem EQ, und alles runtergedampft auf einen komprimierten Sound. Es ist schon ziemlich hysterisch, Bach durch den Moog zu jagen – aber wie gesagt, es ist die selbe Technik wie bei Johnny Ramones Gitarre.
Craig Leon im Studio mit den Ramones (1976)
Ich interessiere mich sehr für das Mathematische in der Musik. Das ist auch der Grund, warum ich Bach so mag; es war wohl auch sein Ding. Und deshalb würde ich mir bei jedem Hall, den ich benutze, sehr spezifische Frequenzen raussuchen, mit denen ich ein Feedback hinbekomme, das vom Füttern des Ausgangs mit dem Ausgangssignal selbst stammt. Dann würde ich es entweder eine Okatve höher oder tiefer legen oder was auch immer tun, um einen bestimmten Effekt hinzukriegen. Ich verfahre so auch bei meinen klassischen Sachen.
Was ich seit jeher mag, ist die Interaktion zwischen verschiedenen Genres und verschiedenen Dingen. Und niemand sollte an irgendeiner Stelle ewig verharren. Die Sache ist die: Musik ist Musik. Und ja, es gibt eine Definition. Aber egal, ob etwas unbewusst entsteht oder aus dem Wissen heraus, das man sich angeeignet hat, oder aus einer Kombination aus beidem – es gibt nicht den einen Weg des Musikmachens, der besser ist als alle anderen. Ich meine, von einem Typen, der ein Blues-Lick spielt, würdest du dir von dem abringen lassen zu sagen, dass Blind Willi Nelson besser ist als Bach? Ich habe da meine Zweifel. Oder ist doch Bach der Bessere? Nein. Es geht nur darum, dass Leute auf die Art Musik machen, die sie beherrschen.
Es scheint so, als ob Du die selben oder zumindest vergleichbare organisatorische Prinzipien auf die verschiedenen Genres anwendest.
Nun, das hat wohl damit zu tun, dass ich schon sehr früh zum Keyboarder ausgebildet worden bin. Und deshalb gehe ich eben so vor. Aber das heisst nicht, dass man das alles wissen müsste. Das Gute an der modernen Digitalkultur ist doch, dass jedem alles offen steht. Es gibt zwar auch eine Kehrseite, die ein bisschen traurig stimmt, nämlich die, dass niemand mehr die Tantiemen bekommt, die er eigentlich verdient hätte. Aber alles ist eben verfügbar und das wirkt dem ein bisschen entgegen. Man könnte sich Aphex Twin vornehmen und seine Sachen orchestrieren, wenn überhaupt jemand so schräg drauf wäre. Ich würde das freiwillig nicht tun, aber wenn einer darauf Lust hätte, könnte er das machen und es in Sonatenform gießen. Vielleicht im Stil von Schubert. Warum auch nicht? Der umgekehrte Weg funktioniert natürlich auch – wenn also jemand Bach remixen möchte, nur zu.
Laden Sie sich die einzelnen Spuren von Craig Leons Aufnahme zu J.S. Bachs "Jesus bleibt meine Freude” aus dem Album Bach to Moog herunter.
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