Für die kreative Interaktion zwischen MCs und Produzenten gibt es keine festen Regeln. Clara Sobrino und Florent Mazzochetti alias Clara! y Maoupa wissen das nur zu gut – das Duo aus Brüssel bewegt sich weitab von Konventionen. Für ihre Musik haben die beiden einen einzigartigen Stil entwickelt, der Genre-Konventionen von Reggaeton, Dancehall und anderen Stilrichtungen geschickt untergräbt, um etwas wirklich Frisches zu erschaffen. Nach ihrer ersten EP Meneo, die 2018 auf dem Label Disques De La Bretagne erschien, entwickelten sie ihren Dembow-Sound auf dem Ende 2019 veröffentlichten Debütalbum Luna Nueva weiter.
Clara Sobrino wurde mit ihrer Mixtape-Reihe Reggaetoneras bekannt, in der sie Reggaeton-Tracks von Frauen aufspürte, um die Kehrseite des männerdominierten Genres aufzuzeigen – einerseits ein feministisches Statement, andererseits aber auch eine erfrischende Interpretation dieser populären Stilrichtung. Die Mixtapes fanden großen Beifall und brachten Sobrino viele DJ-Gigs ein.
„Eines Abends legte ich in Brüssel auf, mit Florent als Support-Act“, erzählt Sobrino beim Interview im Studio des Duos. „Am Ende meines Sets sagte er: ‘Ich habe viele tolle Tracks gehört. Wie wäre es mit einer Kollaboration?' Ich meinte: 'Ich kann nicht MCen, das habe ich noch nie gemacht' – 'Aber du hast doch bei den Tracks mitgesungen'. Das mache ich ständig, weil ich die Tracks liebe, die ich auflege. Also versuchten wir es und es hat funktioniert.”
Mazzochetti, der sich mit Soloproduktionen als Maoupa Mazzochetti einen Namen gemacht hat, veröffentlicht seine Industrial-inspirierte Musik seit 2015 auf Labels wie Mannequin, Knekelhuis und BANK Records NYC. Der Wechsel zum Reggaeton mit Sobrino holte ihn zwar aus seiner Komfortzone, doch seine künstlerische Philosophie war flexibel genug, um an eine andere musikalische Herangehensweise anzudocken.
Die EP Meneo entstand in kurzer Zeit und kombiniert in einem Take gemixte Tracks mit Sobrinos spanischen Vocals. Für Luna Nueva erforschte das Duo dann eine breitere Klangpalette und verfeinerte die Produktion.
„Neumond ist der Moment eines Neubeginns, und das war auch die Energie hinter dem Album“, sagt Sobrino. „In meinen Lyrics steckt wie immer auch ein wenig Feminismus. Zum Beispiel geht es darum, einen Mann zum Tanzen aufzufordern und zu sagen, wie sexy er ist. Anstatt zu sagen: 'Ich bin diejenige, die tanzt und das Sexsymbol ist'. Kurzgesagt: ein Rollentausch.“
„Bei dieser LP wollte ich mich mehr auf die Produktion konzentrieren“, sagt Mazzochetti. „Bei der ersten EP hatte ich die Kick, die Bässe und alles andere in einer Stereospur, und dann haben wir die Vocals drübergelegt. Das Ganze war roher, eher wie Jamming. Wenn man zusammen arbeitet, funktioniert das mit separaten Spuren einfach besser. Auf der EP ist ein Stück namens 'Discordia'. bei dem wir uns nicht einig waren. Clara gefiel der Synth-Sound nicht – er ist sehr hoch und dominant im Mix, aber es war unmöglich, ihn rauszuschneiden“.
So läuft die Kollaboration
Sobald der erste Entwurf eines Instrumentals fertig ist, schickt Mazzochetti ihn an Sobrino. Sie besucht ihn dann im Studio, um die nächsten Schritte der Track-Produktion zu besprechen. Dabei geht es auch um die Struktur – welche Parts bleiben oder entfernt werden sollten, und wie Sobrinos Vocals darin untergebracht werden. Für das Songwriting gibt es bei der Zusammenarbeit keine festen Regeln.
„Es kommt auf den jeweiligen Track an“, erklärt Sobrino. „Manchmal schreibe ich einfach die Lyrics zu Maoupas Track, manchmal bringe ich aber auch schon Lyrics mit ins Studio, und wir suchen dann zusammen nach einer Struktur.“
„Und manchmal fallen am Ende manche Zeilen wieder weg“, ergänzt Mazzochetti. „Es kann aber auch vorkommen, dass wir noch mehr Lyrics brauchen. Wir versuchen, in unserer Arbeitsweise frei zu sein.“
„Ziemlich punkig“, sagt Sobrino lachend.
„Man muss die Lyrics immer mit der Musik zusammendenken“, sagt Mazzochetti. „Selbst wenn man sehr straighte Instrumental-Tracks mit vier Takten Musik und zwei Takten für den Fill produziert. Ich weiß nicht, ob das Punk ist. Die Kunst ist Arbeit und technisch manchmal sehr aufwendig.“
Auf Luna Nueva gibt es viele Momente, in denen sich Sobrino und Mazzochetti nicht an traditionelle Songstrukturen halten. Vor allem im Track „Virgo“ wechseln sie impulsiv zwischen melodischen Themen, während Sobrinos Flow einen nichtlinearen Weg nimmt und das Vers-Refrain-Schema ignoriert. Oft stoppt sie kurz, um für eine Synth-Line Platz zu machen: klassisches Call and Response.
„Unsere Arbeitsweise war intuitiver“, sagt Sobrino, „und wir haben nicht lange über die Struktur nachgedacht. Bei 'Virgo' habe ich zuerst versucht, einfach zu dem Track zu singen. Doch er war zu kompliziert, zu vielschichtig und mein Gesang passte nicht dazu. Dann schickte ich Florent einen superbekannten Reggaeton-Track und sagte: 'Hör mal – Wenn er singt, ist der Synth weg, und wenn er nicht singt, ist er wieder da!'“
Inspiration spiegeln
Sobrinos Reggaeton-Wissen brachte Clara! y Maoupa in Bewegung. Neben einigen Live-Auftritten als Duo war auch das gemeinsame Auflegen ein wichtiges Element bei der Entwicklung des Sound-Konzepts. Ihr Boiler Room System Mix ist ein gutes Beispiel – hier verbinden Sobrino und Mazzochetti eigene Tracks mit der Musik ihres Labelkollegen Low Jack und mit Dancehall- und Reggaeton-Tracks, die auf ihre Einflüsse verweisen. In diesem Zusammenhang spricht Mazzochetti über seine wachsende Begeisterung für obskure Dancehall-Tracks wie Kevin Lenkys Everything. Doch das wirklich Besondere an Luna Nueva ist die Art, wie vertraute Genre-Merkmale unterwandert werden. Gespenstische Grim-Leads bekommen eine melancholische Färbung, und Synth-Pads werden gegen Chor-Samples ausgetauscht (die Vocal-Fläche von „Badman“ stammt von King Doudou – noch so ein Reggaeton-Regelbrecher).
Clara! y Maoupas „Boiler Room System Mix“
„Auf 'Virgo' gibt es einen gesampelten Dubstep-Bass“, erklärt Mazzochetti und imitiert das klassische LFO-Bass-Wobbeln. Ein ungewöhnliches Sample in diesem lebendigen Mix aus monophonen Bässen und flinken Drum-Hits, und er ist so bearbeitet, dass er eher wie Percussion klingt. Doch der ikonische Sound ist trotzdem unverkennbar. “Ich habe das Sample mit einem Pitchshifter und Lives Chorus bearbeitet. Ob bewusst oder nicht – ich verweise auf Stile und Sounds, die ich mag. Aber ich will sie nicht so nutzen wie andere Leute.”
Eigene Wege
Maßgeschneiderte Drum-Sounds sind für Mazzochetti ein wesentlicher Faktor für einen individuellen Sound. Er startet die Produktion immer mit externer Hardware – seiner MPC, Drum-Maschinen wie Roland TR-606, TR-707 und CR-8000 sowie Synthesizern wie Roland SH-101 und Yamaha PSS-680. Genau wie viele jamaikanische Dancehall-Produzent:innen nutzt Mazzochetti einen alten Soundcraft 200 B Mixer mit enormer EQ-Range, in Kombination mit Outboard-Effekten. Anschließend nimmt er alles in mehreren Spuren auf und bearbeitet die Aufnahmen in Live. Zusätzlich schichtet er einzelne Drum-Sounds übereinander.
„Ich nutze nie nur eine einzige Snare- oder Kick-Drum“, erklärt Mazzochetti, „sondern arbeite gerne mit Drum-Layern. Die Snare von 'Gavilán' besteht zum Beispiel aus einer 808-Snare und einer Snare aus einem Trap-Track, beides stark komprimiert mit einem DBX Compressor. Die Snare-Drums von 'Virgo' und 'Secreto Ritual' stammen von einem Tamburin ohne Schellenkranz und mit gebogenem Fell, aufgenommen mit zwei Mikros.“
Tricks, um Platz zu schaffen
Während sich Mazzochetti auf den anfänglichen Outboard-Prozess konzentriert, um für jeden Part des Tracks den gewünschten Sound zu erzielen, hat er auch ein paar einfache Tricks für Effekte in Live. Zum Beispiel nutzt er Lives Vocoder, um rhythmische und perkussive Elemente einzufärben, und bringt mit Auto Pan und Sidechain-Kompression Bewegung in die Sounds. Um im Mix Raum zu schaffen, nutzt er manchmal Simple Delay.
“Dieser Effekt ermöglicht Links-Rechts-Panning ohne Feedback”, erklärt Mazzochetti. Dabei wählt er unterschiedliche Delayzeiten für die Stereokanäle. “So bleibt in der Mitte genügend Platz für andere Frequenzen – eine tolle kreative Option.”
Sobrinos Vocals nimmt Mazzochetti mit dem Soundcraft-Mixer, dem DBX Compressor und einem dynamischen EQ auf. Sobald die Aufnahmen in Live sind, entfernt er ungewünschte Frequenzen mit einem weiteren EQ und gibt ihren Vocals einen eigenen Platz im Mix. Zusätzlich wendet er einen einfachen Chorus-Effekt auf Overdubs und zusätzliche Vocal-Layer an, und legt ein wenig Reverb auf die Leadstimme. Die klanglichen Eigenheiten von Clara! y Maoupa (und Mazzochettis Solo-Produktionen) kommen also größtenteils über die Outboard-Alchemie zustande.
Markant abliefern
Sobrinos MC-Style ist für Reggaeton oder andere Genres eher untypisch. Doch gerade weil sie nie vorhatte, am Mikro durchzustarten, haben ihre Vocals einen markanten Sound, den sie auf Luna Nueva selbstbewusst variiert – manchmal kühl und distanziert, manchmal auch verführerisch oder theatralisch.
„Mein Style hängt vom jeweiligen Track ab, und was mich darin inspiriert“, erklärt Sobrino. „Ich mag zum Beispiel sehr theatralischen lateinamerikanischen Gesang, sie legen viel Schmerz in die Performance. Das wollte ich bei 'Gavilán' ausprobieren. Ich höre viel lateinamerikanische Musik, zum Beispiel die chilenische Sängerin Violeta Parra und ihr tieftrauriges Liebeslied 'El Gavilán'. Bei meinem 'Gavilán' geht es nicht wirklich um Liebe, sondern eher um das Verführen eines Mannes, der mit einer anderen Frau zusammen ist.“
Sobrino lässt sich nicht nur von lateinamerikanischer Musik inspirieren, sondern auch von Volksmusik aus ihrer Heimat in Galizien. Zwischen all den elektronischen Tracks auf Luna Nueva findet sich deswegen auch „Sum Sum“ – die eindrucksvolle Coverversion eines galizischen Volkslieds, subtil durch moderne Akzente erweitert.
„Ich wollte schon lange etwas mit galizischer Musik machen, weil ich sie liebe und sie eine lange Geschichte hat“, erklärt Sobrino. „Zuerst wollten wir Samples von galizischen Songs nutzen, aber das hat nicht so richtig funktioniert. Florent gefiel das Stück 'Sum Sum', also hat er einfach versucht, die Stimmen der Sängerinnen mit zusätzlichen Sounds zu kombinieren.“
„Mir ging es darum, die Stimme und den Spirit des Tracks zu bewahren“, ergänzt Mazzochetti. „Der Gesang ist einfach perfekt, also habe ich weitere Elemente hinzugefügt – ein Saiteninstrument und eine Orgel für mehr Dramatik und harmonische Elemente, ein paar Sub-Kicks und eine Tabla.“
Sobrino plant zwar weitere Experimente mit traditioneller galizisischer Musik, ist sich aber nicht sicher, ob dies im Rahmen der Beat-orientierten Musik mit Mazzochetti stattfinden wird. „Als ich anfing, Reggaeton aufzulegen, meinte ein Freund: 'Mach doch mal Reggaeton auf Galizisch'. Eine absurde Idee, aber irgendwie auch witzig!“
Referenz, nicht Revival
Luna Nueva ist reich an Einflüssen und Referenzen zu Sobrinos und Mazzochettis musikalischen Vorlieben, doch der Schlüssel zu ihrem kreativen Erfolg liegt darin, die geschätzten Sounds nicht einfach nachzubilden.
„Ich mag keine 100%igen Revivals“, sagt Mazzochetti. „Ich mag hybride Musik und wenn man die Persönlichkeit von jemandem in der Musik fühlen kann. Für mich ist es eine Stärke, bei der Musik nicht zu viele Regeln zu haben.“
„Ich analysiere Musik nicht groß, weil ich nicht so intellektuell rangehen will wie im Studium und bei meiner Arbeit“, erklärt Sobrino. „Als ich zur Musik kam, wollte ich mir nicht die ganze Zeit Gedanken machen, sondern einfach etwas Handfestes machen.“
Diese eher instinktive Herangehensweise ist für die Musik von Clara! y Maoupa von entscheidender Bedeutung – sie ermöglicht es dem Duo, etwas wirklich Neues zu erschaffen.
„Claras Stärke bei unserem Duo liegt darin, dass sie keine technischen Sachen sagt, wie zum Beispiel 'Die Frequenz des SH-101 ist vielleicht zu... bla bla bla'. Stattdessen sagt sie: 'Vielleicht solltest du das abschneiden und dorthin schieben', und es funktioniert“, so Mazzochetti. „Sie ist ziemlich frei in ihrer Meinung über die Musik, die wir machen, und bewahrt eine gewisse Distanz zu den Instrumenten. Das ist großartig.“