Das Brasilien von morgen: Neue Musik aus Rio und São Paulo
In Abletons Heimatstadt Berlin klingen die Echos der Feuerwerke, freudigen Gesänge und klirrenden Gläser immer noch nach. Während Deutschland den WM-Titel feiert, bringen wir unser letztes Künstler-Portrait aus dem Gastgeberland der Fußball-Weltmeisterschaft 2014 heraus. Nachdem wir kurz in Brasiliens musikalische Geschichte eingetaucht sind und mit einer seiner musikalischen Patriarchen – Dudu Marote gesprochen haben, berichtet im folgenden Artikel Christine Kakaire, über die innovative Produzenten-Szene Brasiliens und was es bedeutet, im Brasilien des 21. Jahrhunderts Musik zur Passion zu machen.
Eine stark wachsende Wirtschaft, tropisches Klima und die Kultur des Karnevals scheinen die gewinnträchtige kommerzielle Dance-Music-Industrie Brasiliens perfekt angekurbelt zu haben. So schwungvoll und nachhaltig, dass sowohl der 'Economist' als auch 'Forbes' diesem Thema in den vergangenen Jahren mehrmals eigene Artikel widmeten. Auf der jährlichen Rio Music Conference wurde ein Umsatzplus im sechs- bis siebenstelligen Dollarbereich prognostiziert – bei stetig steigender Popularität der Badeort-Region Balneario Camboriu. In dieser Region, die als das "Ibiza Brasiliens" gilt, strömen Nachtschwärmer in angesagte Clubs wie das 'Warung' oder das 'Green Valley', und schaut man sich das Angebot der VIP-Bereiche in Kombination mit Ausschankservice an, lässt sich feststellen, dass dies nicht nur den Touristen, sondern auch der rapide wachsenden Mittelschicht des Landes gefällt.
Geprägt ist Brasiliens Nachtleben vor allem von der DJ-Kultur der Großraumdiskotheken, doch es gibt auch eine andere, eine neue Facette im Spektrum. Hier entwickelt sich eine weit komplexere, aber umso spannendere Geschichte. Denn der Output an elektronischer Musik aus der aufstrebenden "Do-It-Yourself"-Szene Brasiliens steht mittlerweile in ernstzunehmender Konkurrenz zu den Sachen aus Nachbarländern wie Chile, Mexiko und Argentinien. Drei der faszinierendsten Vertreter dieser neuen Talente wollen wir Ihnen vorstellen, deren Sichtweise eine ganz eigene ist. Die von Themen wie Ungleichheit und Abschottung bestimmt wurde, auf denen das enorme Gewicht des musikalischen Erbes des Landes lastet und die die Kompromisse im Musikerdasein im heutigen Brasilien finden mussten.
CARROT GREEN
Carrot Green
Carlos Gualda gilt mit Fug und Recht als heißer Anwärter für den Produzenten-Thron Rio De Janeros. Sein Weg dorthin führte mit zwei richtungsweisenden Entscheidungen jedoch erst einmal über die Landesgrenzen Brasiliens hinaus. Eine davon war der Abbruch des College, zugunsten einer dreijährigen Ausbildung zum Audioproduzenten in London. Die zweite folgte mit seiner Aufnahme in die 2013 Red Bull Music Academy in New York. Lässt sich Letzteres als Anerkennung seiner beeindruckenden, discolastigen Veröffentlichungen als Carrot Green auf dem Molotov21 Label begreifen, so rührte die erste Entscheidung eher aus purer Frustration über den Mangel an geeigneten Ausbildungsmöglichkeiten in seiner Heimatstadt. "Es gibt mittlerweile ein paar entsprechende Kurse in Brasilien. Aber sie sind nicht sonderlich gut und ich wollte ein echtes Bild vom Musikmachen bekommen.", führt er aus und ergänzt: "Es gab weder einen Mikrofonschutz noch das Grundlagenwissen, wie sich Schall in der Luft überträgt. Nichts zu Syntheseformen oder irgend etwas anderem, das mit der Entstehung von Musik zu tun hat. Ich hatte keine Erfahrung mit Aufnahmen, Sequenzierung und dergleichen. Als ich nach England kam, wurde mir erstmal klar, wie viele Leute dort ihren eigenen Kram machen. In London saugte ich auf, was nur irgendwie ging. Danach fing ich an, wesentlich ernster zu produzieren und an meinem eigenen Projekt zu arbeiten."
Wieder zurück in Brasilien konnte Carrot Green feststellen, dass der problemlose Zugriff auf Online-Production-Tutorials mittlerweile einen maßgeblichen Einfluss auf die Bedroom-Producer-Szene hatte. Nach einer Reihe hardwaregestützter Produktionen, die auf sein Konto gehen, mit etlichen DJ-Gigs auf dem Buckel und einer kritischen Sicht auf das kommerziell durchdrungene Nachtleben Rio De Janeros, konzentriert sich der rastlose Produzent jetzt auf einen anderen Ort. "Ich spiele viel in São Paulo und somit kann ich beide Städte ganz gut beurteilen. Rio hinkt sowas von hinterher. Die Partys schimpfen sich zwar 'Deep House', haben mit der "Old School"-Definition aber überhaupt nichts zu tun. Rio hat da seine ganz eigene Sicht der Dinge." Mit dem bevorstehenden Umzug nach São Paulo wird Gualda wieder ein Spannungsfeld finden, das es ihm erlaubt, die in den zurück liegenden Jahren entwickelte Dynamik beizubehalten. "Ich fühle mich wie viele Leute, die über den Globus verteilt zufällig in Kontakt kommen.", sagt er zum Abschluss, "Denn es ist einfach großartig, dass jetzt so viel mehr Menschen meine Musik kennen."
40% FODA / MANEIRISSIMO
Lucas de Paiva und Gabriel Guerra liefen sich erstmals vor einigen Jahren während des Praktikums in einem Tonstudio über den Weg. Gemeinsam mit Guerras Künstlerfreundin Carmen Alves ging das Trio schnell dazu über, sich eine eigene Labelheimat aufzubauen. Von ihrer ersten Veröffentlichung aus dem Jahr 2013 (ein "Various Artists"-Sampler) bis zu ihrem neunten und damit jügstem Release (Educação Bentes EP), der als Produzenten den Namen Guerrinha ausweist, erweckt das Label den Eindruck, eine Vielzahl unterschiedlichster Charaktere zu beherbergen. Genauer betrachtet sind es jedoch hauptsächlich die drei Labelgründer selbst, die hier unter verschiedenen Firmierungen in Erscheinung treten. Eine schrullige LoFi-Qualität und ihre Liebe zu Vintage-Sounds, die durch kauzige Filter gejagt werden, brachten ihnen bereits wohlwollende Vergleiche mit Labels wie dem New Yorker L.I.E.S und dem Osloer Sex Tags Mania ein. Hinzu kommt das bevorzugte Tonträgerformat – personalisierte CD-Rs –, die den Kultstatus weiter befeuern.
Ebenfalls aus Rio stammend, teilt De Paiva die Zurückhaltung Carrot Greens gegenüber des Nachtlebens der Stadt. "Gäbe es Leute, die sich für Hardware-Jams und ungewohnte elektronische Musik stark machen würden, hätten wir sicherlich kein Problem, an Shows zu kommen und in Clubs zu spielen. Die meisten Gigs werden anscheinend lustlos über die Runden gebracht und die meisten Leute suchen sich ihre Party auch nicht unter musikalischen Gesichtspunkten aus. Es geht eher um ein soziales Spiel." De Paiva erwähnt auch eine allgemeine Denkweise, die auf die musikalische Vergangenheit Brasiliens fixiert ist und zu Lasten der Gegenwart geht. "Alte Helden sind hier nicht nur Vorbilder, sie sind fast wie Institutionen", sagt Guerra. "Manchmal hat man den Eindruck, dass wir uns nur in ihren Schatten bewegen können, selbst wenn wir etwas in einem ganz anderen Kontext anbieten. Die Geschichte der brasilianischen Popmusik hat nicht so viel zu bieten, das den Kopf des gewöhnlichen Hörers stimuliert. Und damit meine ich noch nicht einmal die elektronische Musik. Ich bin wirklich fest davon überzeugt, dass man mit etwas, das wie ein Flickenteppich wirken mag, eine großartige Message rüberbringen kann. Aber dafür braucht es die Bereitschaft des Hörers, sich darauf einzulassen und der Musik ein Anzweifeln zu gestatten. Die Geschichte der Popmusik unseres Landes lässt nicht viel Platz für einen Perspektivwechsel und eine differenzierte Denkweise zur Auslegung ihrer Musik. "
Obwohl in Brasilien viele Privatvermögen wachsen, gibt es immer noch unflexible soziale Strukturen innerhalb der Gesellschaft, die bestimmte Schichten weiter einengen; trotz der demokratisierenden Macht der Online-Technologie. Beispielhaft dafür ist die fortwährende Kluft zwischen dem engmaschigen Netz, das sich um die Jungs der weissen Mittelschicht spannt, und deren Gegenüber aus den weniger wohlhabenden Stadtvierteln. "Ich wohne ganz in der Nähe von Rocinha", sagt Guerra, "das ist eine große Favela, in der es viel Baille-Funk gibt. Und ich kenne gerade mal zwei Baille-Produzenten von dort! Das liegt aber nicht an meinem Desinteresse, sondern ist ein Beweis dafür, dass die Mauern zwischen den einzelnen Schichten nach wie vor existieren. Wir sind weit davon entfernt, dass Musik und andere Kunstformen diese Grenzen überwinden. Das Internet steht schon für vieles, aber sicherlich nicht für die Revolution, wie manche Leute glauben möchten."
Trotzdem hat es das Trio geschafft, das Internet-Rauschen für sich zu nutzen. In den letzten 12 Monaten wurden das Spin Magazine, Little White Earbuds, Juno Plus, die Washington Post und NPR auf sie aufmerksam. Ihre Bandcamp-Seite, die Dreh- und Angelpunkt aller Aktivitäten ist, und auf der der Nutzer selbst bestimmen kann, wie viel er für einen Tonträger bezahlen möchte, wird den Ausstoß sicherlich weiter in die Höhe treiben. Und somit heisst es für Paiva, Guerra und Alves noch mehr CD-Rs zu einem nicht festgelegten Preis zu verkaufen, noch mehr zu brennen, zu stempeln, zu kritzeln und noch mehr horrende Versandpreise zu entrichten. Letztlich tun sie das alles aus einem ganz bestimmten Grund, ob ihre Fans sich dessen bewusst sind oder nicht. "ich dachte immer, dass CD-Rs kleine unterbewertete Dinger sind.", sagt Guerra. "Sie sind billig und man kan auf darauf herumkrakeln. Aber eigentlich wollen wir mit der physischen Veröffentlichung eher an etwas erinnern denn ein Produkt schaffen. Das Komische ist, dass viele der Leute, die unsere Musik kaufen, die CD gar nicht mehr haben wollen, weil es 'keinen Sinn' macht und sie die Musik ja bereits geladen haben. Aber wir sind ein Label mit einer Botschaft und das ist unser Weg zu sagen: 'Keep it real.'"
GATURAMO
"Gaturamo"
Ungefähr 400 Kilometer landeinwärts von Rio liegt São Paulo, Heimat von Brasiliens führendem Underground-Club D-Edge. Unter den zahlreichen Haus-Acts ist auch Laercio Schwantes Iorio, aka L_cio als regelmäßiger Bestandteil der Mothership-Nacht unterwegs. Weit mehr Aufmerksamkeit erregt jedoch seine neuartigen Live-Improvisationen mit seinem Partner Pedro Zopelar. Hier loten sie Grenzen aus und testen, wie weit das Publikum mitgeht, selbst an einem Ort wie dem eher aufgeschlossenen São Paulo. "Viele Leute verstehen unser Freestyle-Format noch nicht , aber es ist nur eine Frage der Zeit und es wird eine neue Live-Act-Kultur in Brasilien entsehen.", so das Duo via E-mail. "Derzeit gibt es nicht sehr viele Acts, aber das hier etwas heranwächst, ist ganz offensichtlich."
lorio und Zopelar produzierten über einen Zeitraum von zwei Jahren verschiedene Künstler, bis sie ihre ganz eigene Studio-Chemie entwickelt hatten. Ende letzten Jahres und unter dem Einfluss von Live-Jam-Acts wie Juju & Jordash, Minilogue und Cobblestone Jazz beschlossen sie, ein Projekt zu gründen, das sich vollkommen der spontanen Improvisation verschreibt. In der Mixtur finden sich die spezifischen Sichtweisen beider wieder: Iorios Live-Techno und House-Kompositionen; Zopelars Wurzeln, die vom Jazz und von brasilianischer Instrumentalmusik herrühren. Ihr Output erscheint vorrangig im Videoformat. Aufgenommene Live-Sessions, die die Experimente des Duos dokumentieren. Auf ihrem Weg dorthin hatten sie einige Hindernisse zu überwinden: Einfuhrsteuer auf Studiotechnik zum Beispiel, die bei etwa 50 Prozent des jeweiligen Anschaffungspreises lag. Oder Reaktionen des Publikums, die anfangs alles andere als wohlwollend ausfiel. Aber sie sind glücklich mit dem Kompromiss, der ihnen erlaubt, von der Musik zu leben. Das Einkommen sichern immer noch Produzentenaufträge für andere Künstler, für Mode-Events und für die Werbung. Nebenbei entwickeln sie Gaturamo und ihre anderen unzähligen Projekte weiter.
Die Zukunft meint es wohl gut mit dem Duo. Immer zahlreicher sind die positiven Rückmeldungen aus dem Kreis der DJs und Produzenten. Eine Veröffentlichung auf D-Edge Records steht an, aus den gemeinsamen Studio-Sessions mit den Musikern André Nardi und Soledad. Derzeit werkeln die beiden in Zusammenarbeit mit zwei Helden der Modular-Synthese: Dudu Marote und Rodrigo Coelho. "Produzenten wollen ihre Arbeit und ihren Stil auf die Bühne bringen.", sagen sie. "Wir denken, es ist nur noch eine Frage der Zeit [für Brasilien]. Wir sind neu und wir wachsen. Brasilien wird mehr und mehr Teil des internationalen Geschehens."