Ben Lukas Boysen: Überspannung mitmachen
Dass aus seinem Plan, Elektronische Musik zu studieren, nichts wurde, erwies sich für Ben Lukas Boysen als Segen, denn so konnte er frei akademischer Fesseln eigene Welten erkunden und bauen, und das mit großem Erfolg – egal ob als Komponist für Film (Der Fall Collini, Das Lazarus-Projekt), Videospiel (Everything, mit Sebastian Plano) oder als Solokünstler. Während er als Hecq die Seite seiner Musik veröffentlicht, bei der es, wie er sagt, „keine Regeln und Ordnung“ gibt, stehen die Alben unter seinem Namen fast für das Gegenteil: lange architektenhaft an etwas arbeiten und es ausfeilen.
Mit Alta Ripa ist gerade das jüngste „Ben Lukas Boysen“-Album erschienen – wie schon die Vorgänger Spells und Mirage beim etablierten Label Erased Tapes. Der Autor dieses Interviews und Ben sind seit vielen Jahren Freunde, und so war dies ein schöner Anlass, sich wieder einmal zu treffen, über die Entstehung von Alta Ripa zu sprechen – und natürlich über Synths, Sägezähne und Sequenzen…
Der Pressetext zu Alta Ripa sagt, dass es eine Reise zurück zu deinen musikalischen Anfängen ist. Wo liegen die, und was ist die Verbindung?
Angefangen habe ich so 2000, mit einem Effektgerät, einem Synthi und zwei Lautsprechern vom Flohmarkt. Ich wusste viel früher, dass ich das machen will, aber ich war nicht vernetzt und meine Freunde interessierten sich nicht fürs Musikmachen – und das war gut so, weil ich mir mein eigenes kleines Reich bauen konnte.
Wer waren damals deine Helden?
Aphex Twin, Autechre, Squarepusher, Atom TM.
Ein sehr elaborierter Musikgeschmack für einen Jugendlichen.
Ja (lacht), aber mit 16 fing das ein bisschen gemäßigter an: [LTJ] Bukem, Goldie… Drum’n’Bass und Break-Beat-Geschichten. Das ging mir aber noch nicht weit genug. Als ich dann die erste Autechre gehört habe, das war „Tri Repetae“, das war, als ob man neue Farben entdeckt. Ich dachte, “Von hier gehe ich jetzt wieder ein kleines Stück zurück, denn das ist unhörbar für mich, aber super, dass ich das gemacht habe, um die Grenzen des Machbaren auszuloten”.
Auch heute noch höre ich keine Autechre-Platte ganz durch, weil mir das zu wild ist. Ich brauche mehr Struktur und Form. Aber als Maßstab für das, was man machen kann, ist das die absolute Foundation für mich – zusammen mit Aphex Twin.
Aber zum Musikmachen war das eine hohe Hürde und ein sehr abstrakter Einstieg.
Ja, absolut, ich wusste auch gar nicht, wie die das machen. Ich fand nur immer spannend, dass es was Transzendierendes hatte, dass es mehr war als eine bestimmte Akkordfolge und so.
Den Gestus in einer bestimmten Musik, das fand ich spannend. Ob das Ergebnis musikalisch befriedigend war, war eine ganz lange Zeit zweitrangig. Und aus meiner Sicht war das nur möglich mit elektronischen Mitteln, weil alles andere erkennt man sofort als Instrument oder als Stimme oder als gute Komposition und so. Es hat mich lange nicht interessiert, wie etwas aufgenommen war oder ob es gut komponiert war, sondern nur, wie es klingt und wie es sich anfühlt.
Und das ist die Verbindung zu Alta Ripa: Bei diesem Album war mir wichtig, dass der Sound wieder im Mittelpunkt steht. Erst mal nur die Ästhetik einer schönen Sägezahnwelle mit der richtigen Filtereinstellung. Das ist der Rückschluss zu meinen musikalischen Wurzeln. Ich wollte wieder das erleben, was ich damals erlebt habe: nur in einem Klang aufgehen und spüren, was das in einem auslöst.
Was sich durch all deine Alben zieht, aber auf Alta Ripa wieder zentrales Thema ist, ist deine Liebe zu Synthesizern.
Ja. Es gab und gibt all diese anderen Phasen, Field Recording, Granular…, aber im Herzen will ich immer mit Synthesizern arbeiten. Nicht um akustische Instrumente zu ersetzen, sondern weil das, was da rauskommen kann, mein Bedürfnis befriedigt, den Bogen immer etwas zu überspannen mit einer bestimmten Sache.
Ich habe jetzt für mich die Unterschiede zwischen Hard- und Software-Synthesizern herausgearbeitet – und ich möchte mich mit Hardware umgeben, von der ich meine, dass sie nicht gut emulierbar ist.
Und damit meine ich: Das Hauptargument, dieses viele Geld dafür auszugeben, ist die Interaktion mit dem physikalischen Instrument.
Du kannst ja auch ein Modularsystem im Rechner haben. Das ist gar kein Problem, das macht mir nur einfach gar keinen Spaß. Mit dem Arp [2600] ist es genau das Gleiche. Es gibt sehr gut klingende Arp-Emulationen, aber ich habe da einfach keinen Lust drauf. Ich will mich vor dieses Riesenteil setzen und die Regler bedienen – und das hat einen Einfluss auf das Ergebnis.
Ich bin überhaupt kein „Nur Analog“-Hardliner – ganz im Gegenteil. Eine hybride Arbeitsweise ist für mich essenziell, weil bestimmte Sachen im Rechner einfach viel besser, einfacher und effektiver funktionieren.
Gerade mit Modular oder dem Arp kann es sehr schnell viel zu kompliziert werden, aber ja, ich brauche meine analogen Synths, weil sie in mir die Leidenschaft aufrechterhalten. Ich will daran herumschrauben, und ich merke für mich, dass Musik anders funktioniert, anders entsteht, wenn Tasten, Regler, Platinen und Kabel im Spiel sind. Ich liebe das einfach.
Und klar, mir ist bewusst, was das für ein Glück ist. Dass ich morgens aufstehen darf und sagen kann, jetzt stecke ich mal hier ein Kabel rein und mache einen Ton, dass das mein Beruf sein darf zum jetzigen Zeitpunkt in meinem Leben, empfinde ich als großes Privileg.
Welche Synths ziehen dich an, und welche eher nicht?
Mit der Zeit habe ich gelernt, was ich eigentlich will und brauche. Als der Moog One rauskam, dachte ich zum Beispiel, „Jetzt los und kaufen und fertig.“ Aber dann habe ich ihn ausprobiert, und er kann irgendwie alles – und ich habe für mich festgestellt, dass ich spezialisierte Sachen will, die Grenzen haben. Denn dann kann ich mich genau darauf fokussieren, mit dem Wesen dieses Instrumentes wachsen und diese Grenzen ausloten.
Du hast Klassiker wie Prophet 10, Arp 2600 oder Model D. Wie schaffst du es, dass deine Tracks damit trotzdem frisch und nicht wie Zitate-Sammlungen klingen?
Ein ikonischer Synth steht für einen bestimmten ikonischen Sound. In den meisten Demos zum [Minimoog] Model D hörst du z. B. die typischen Funk-Sounds, die mir persönlich die Fußnägel hochklappen – einfach nur weil das so gar nicht meine Musik ist. Wenn du ihn aber „langsam“ und mit einer anderen Palette spielst, ist es einfach nur eine absolute Wand von Klang, die ich nicht so abgenutzt finde.
Generell versuche ich mich bei jedem Instrument nur auf seine Stärken zu konzentrieren, und nicht darauf, wofür es berühmt ist. Beim Arp 2600 wäre das, dass er extrem vielseitig ist. Was kann ich damit machen, das ich mit anderen Synths nicht machen kann? Und nicht normale Synth-Sounds, die dann immer gleich nach Depeche Mode oder Tangerine Dream klingen.
Beim Model D ist es, dass er einfach wahnsinnig fett, brachial, fast schon gewalttätig klingen kann. Am Ende frage ich mich immer, wie ich damit meine eigene Welt bauen kann, denn das ist für mich immer das Wichtigste.
Eine andere Methode, Sound-Zitate zu vermeiden, ist – bei programmierbaren Synths – wahrscheinlich auch das Meiden von Werks-Presets? Wie stehst du dazu?
Da habe ich überhaupt keine Berührungsängste. Das ist doch völlig albern, zu sagen, „Wie, nein, dann hast du das ja gar nicht selber gemacht!“ Sein Klavier hat man doch auch nicht selber gebaut, damit es so klingt, wie es klingt. Alles, was ich mache, muss dem fertigen Stück dienen. Wenn sich da ein Preset anbietet, kommt das rein.
Einige deiner Synths sind nicht Preset-fähig. Jetzt fängst du damit einen Track an, es klingt toll, aber meistens machst du den Track ja nicht gleich fertig. Nimmst du gleich Audio auf – oder fasst du den Arp die nächsten Wochen nicht mehr an, um den Sound nicht zu ändern?
Es kommt tatsächlich vor, dass ich einen Synth dann länger nicht anfasse. Ich habe aber auch die Erfahrung gemacht, falls ich einen Sound nicht konserviere und ihn später nicht mehr genau so reproduzieren kann, dass die nächste Reinkarnation oft auch ganz spannend ist.
Das hat mir geholfen, etwas lockerer damit umzugehen. Wenn ich z. B. eine Sequenz zum ersten Mal im Track vom Arp kommt, und später will ich sie dann nochmal haben, dann muss sie halt ein anderer Synth spielen. Ich bin da nicht mehr so dogmatisch, weil ich immer noch derjenige sein will, der die Zügel in der Hand hat, und wenn ein Instrument sagt, „Ja, aber ich kann das jetzt nicht genau so leisten.“, dann will ich darauf reagieren und auch damit okay sein. Und da hat mir mein Modularsystem das Meiste beigebracht.
Du versuchst also nicht, dir immer alle Türen offen zu halten?
Nein, nicht mehr. Ich war so, aber wenn man das erst mal loslässt und sich fragt, „Was dient dem fertigen Ding?“, dann merkt man oft, das bringt nochmal ne neue Farbe rein, wenn ein Part einfach mit einer anderen Einstellung oder von einem anderen Synth gespielt wird.
Ich habe mit dir ein One-Thing-Video zum Layern von Arpeggien gedreht, und auch auf Alta Ripa sind viele repetitive Sequenzen zu hören. Wie hast du die gemacht?
MIDI Time Stretching oder die MIDI Tools in Live 12 sind so cool. Davon wird’s auf meinen nächsten Alben auf jeden Fall ne Menge zu hören geben. Aber Alta Ripa war schon vor etwa einem Jahr fertig und ist deshalb noch komplett mit Live 11 entstanden. Und da habe ich meine Sequenzen wie seit jeher immer mit der Maus im Live eingezeichnet.
Ich will Sequenzen, die sich über die Zeit ändern, und das ist so am einfachsten. Ich schalte im MIDI Note Editor „Preview“ ein, damit ich jede Note sofort höre, dann fange ich an, Noten einzuzeichnen – oft eine ungerade Zahl wie 5, weil das meist interessanter ist, dann zeichne ich eine Velocity-Kurve ein, verdopple und kopiere das usw. – und wenn ich tonale Wechsel brauche, mache ich das auch von Hand.
Wenn man einmal ein schönes Pattern hat, ist das oft Fluch und Segen, denn man steckt auch schnell fest damit. Wie wird bei dir dann ein ganzer Track daraus?
Ich habe keine Standardmethode dafür, aber man steckt schnell fest im Sequenz-Gefängnis, wenn man denkt, dass ein Pattern das ganze Stück tragen muss. Muss es aber nicht. Man darf es auch wieder ausmachen, wenn man das möchte.
Wenn man eine schöne Sequenz hat, sollte man die erstmal als Gerüst sehen. Ein Lehrstück dafür ist „Says“ von Niels Frahm. Da ist diese Sequenz als Basis, aber da passieren so tolle Sachen drum herum. Wenn man da richtig zuhört, kann man viel lernen: Was darf denn sonst noch passieren? Darf die Sequenz auch mal aufhören? Da darf man sich einfach nicht vernageln.
Was sich durch Alta Ripa zieht, ist die Balance zwischen Harmonie und etwas Brüchigem: Sounds, die nach Luft schnappen, Tunings, die leicht schwimmen, Rhythmen, die stolpern und sich wieder fangen…
Das bedeutet mir echt viel, dass das so ankommt, denn genau das war das Ziel bei diesem Album: hohe Energie bei geringer Stabilität. Es soll harmonisch und hörbar sein, aber ich will schon, dass man sich danach auch fühlt, als ob man ein bisschen was hinter sich hätte.
Das bleibt wohl ein ewiges Thema bei mir: Sachen ausreizen, Bögen überspannen, aber so, dass man nicht aussteigt, sondern die Überspannung mitmachen kann – so, dass es noch eine emotionale Wirkung hat.
Viele Tracks des Albums klingen sehr druckvoll und komplex, man hört viele Elemente, und trotzdem ist alles sehr transparent. Arbeitest du viel mit Side Chaining?
Ja, in meinen Ableton Live-Projekten ist fast in jedem Kanal ein Glue Compressor, der Side-Chain-mäßig von der Kick Drum gesteuert wird. Also alles wird quasi von der Kick gedeckelt, aber natürlich immer individuell fein eingestellt.
Und wenn du arrangierst, ist das eher analytisch oder mehr aus dem Bauch?
Mittlerweile eher aus dem Bauch. Ich merke einfach, wenn es noch nicht richtig klingt und weiß dann meistens auch, woran das liegen könnte. Aber es ist immer ein subtraktiver Prozess, oder wie man in der Handwerksklasse der Waldorfschule sagte: immer vom Groben zum Feinen. Du fängst mit dem großen Klotz an und nimmst dann immer mehr Sachen weg, bis langsam das rauskommt, was du eigentlich haben willst.
Ours - der erste Track des neuen Ben Lukas Boysen Albums.
Okay, dann lass uns doch mal über die einzelnen Tracks sprechen…
1 – Ours
Die Melodie kommt aus meinem Eurorack, wo ich mir quasi auch einen Minimoog aus verschiedenen Modulen gebaut habe. White Noise moduliert ganz leicht die Tonhöhe, was diesen leicht rauen Sound gibt. Die zweite, etwas offenere Linie kommt von der Deckard’s Voice.
Ursprünglich waren das mal zwei Tracks. Den Beat-Teil, der mit dem Arp 2600 von Arturia anfängt, soviel zu Hybrid, hatte ich zuerst, dann habe ich das improvisierte, langsame Intro aufgenommen. Ich habe beide kombiniert, weil ich genau diesen Effekt wollte, dass jeder denkt, okay, jetzt weiß ich schon, was passiert, und dann kommt was ganz anderes.
Hier hört man z. B., dass manche Sachen leicht aus der Stimmung sind.
Das ist manchmal der Hardware geschuldet. Der Arp 2600 z. B. ist quasi per Default immer irgendwie ganz leicht daneben. Manchmal fahre ich das Tuning aber auch bewusst leicht aus der Comfort Zone, aber nicht mit einer Micro-Tuning-Skala, sondern aus dem Bauch. Clark hat uns ja allen beigebracht, wie schön Sachen klingen können, wenn sie tonal leicht daneben liegen.
2 – Mass
Hier hört man ein Prinzip, mit dem ich öfter auf dem Album gearbeitet habe: löchrige Rhythmen, bei denen Elemente Zahnrad-mäßig ineinandergreifen. Der Bass füllt die Lücke, die im Beat fehlt.
Diese hohen Töne vom OB-6 waren ursprünglich noch mehr verstimmt und sind jetzt für mich genau richtig schön an der Grenze.
Die hämmernden Sechzehntel-Akkorde kommen vom Deckard’s Dream. Der fand das gar nicht witzig, aber genau das macht den Sound aus, weil er das Attack nicht so richtig geregelt kriegt. Da liegt dann noch ein OB-6 drunter, um ein bisschen zu helfen, aber es klingt fantastisch, weil du merkst, da kämpft was um jeden Anschlag – etwas, das jederzeit kollabieren könnte. Instrumente, die ums Überleben kämpfen, machen echt die besten Sachen.
3 – Quasar
Der Intro-Sound ist unverkennbar Prophet 5/10, White-Noise-Modulation. Das ist übrigens der erste Sound, den ich jemals mit dem Prophet gebaut habe.
Dieser Track erinnert mich an meine alten Lieblings-Alben von Booka Shade.
Das nehme ich als dickes Kompliment. Es ist auch schön, wenn das verstanden wird. Das kann man schon als Kniefall nehmen vor den Club-Leuten, die Einfluss auf meine musikalische Entwicklung hatten. Aphex Twin und Autechre hört man auf diesem Album nicht so raus, und Booka Shade hatten jetzt nicht den größten Einfluss auf mich, aber klar, ganz viele aus der Ecke.
Der Bass wird in zufälligen Abständen verzerrt. Die Harmonie ist stabil und läuft stoisch durch, aber Filter und VCA öffnen sich willkürlich und manchmal in sehr unangenehme Richtungen.
Hier kannst du Ben Lukas Boysens Original-Quasar-Ableton-Live-Projekt inklusive aller Audio-Stems kostenlos herunterladen.
Bitte beachte: Dieses Live-Set und alle enthaltenen Samples sind ausschließlich zum Lernen und Erkunden gedacht und dürfen nicht für kommerzielle Zwecke genutzt werden. Erfordert Live 12 Suite.
4 – Alta Ripa
Denkbar einfach und in kürzester Zeit entstanden. Das mit dem Namen ist ne längere Geschichte, aber ich mag es, wenn das bescheidenste Stück des Albums das Titelstück wird – auch im Hinblick auf die Erinnerung ans Großwerden und die damit verbundene Sentimentalität.
Es war eigentlich für Klavier gedacht, aber es wurde dann Prophet 5/10 – plus zwei Roland SRE-555 Chorus Echo. Bei den Band-Echos haben wir jeweils an den Tail-Enden, wo es ausblendet, ganz leicht am Tempo gedreht. Wenn man das während der Akkorde macht, wird es stimmungstechnisch etwas anstrengend, aber im Ausklang gibt es eine lebendige Modulation, die man so einfach mit nichts anderem hinbekommt. Das Beste aus Kassettenrekorder und Echo.
5 – Nox
Eine Ode an den Oberheim SEM, der hier mit Double Tracking [zweimal identisch aufgenommen] die Melodie spielt.
Das rollende rhythmische Gerüst schiebt und bremst gleichzeitig – z. B. durch diese Bursts auf der 2 und 4, also da, wo normale Menschen die Snare hinmachen.
(Lacht), ja, sehr schön gesagt. Diese Bursts sind ein Schwall zeitlich gestaffelter Events: SME, Avenger und MS-20 [Soft-Synths], OB-6 und ein Kick- und ein eher dünner Snare-Sound.
Dabei fällt mir ein, großes Vorbild: Jiri Ceiver. Der hat so 95 bis 98 ein paar Platten auf Harthouse gemacht, und das hört sich immer an wie Club-Tracks nach nem Hörsturz, weil er alle Rollen vertauscht hat, also die Kick macht die Snare usw. Großartig. Auf YouTube gibt’s ein paar Tracks.
6 – Vineta
Der einzige Track mit Vocals, von Tom Adams, – und klar, das Stück tanzt hier komplett aus der Reihe: eine Art früher Rausschmeißer auf einer ganz anderen Gefühlsebene.
Das hat schon was von Engelschor. Was mir schon immer bei dir aufgefallen ist: Du hast keine Angst vor der großen Geste, wenn dir danach ist. Und wenn man dich live sieht: dein Publikum geht das auch voll mit!
Ja, wenn das ganze Album so wäre, wäre es cheesy, aber im Kontext mit den anderen Stücken finde ich das ganz schön. Und warum nicht?
Aber viele hätten Angst, sowas zu machen, weil man lieber als intellektuell gesehen werden und auf keinen Fall irgendwie kitschig genannt werden will. Das braucht schon Mut.
Wenn ich Musik höre oder mache, will ich nur spüren. Und was immer sich dann richtig anfühlt, ist auch richtig. Ich find’s toll, so ein Stück auf dem Album zu haben, das aber auch andere Elemente hat, z. B. diesen Intro-Sound. Das war so ein Unfall im Modularsystem, wo ich sofort dachte, klar, dass nehm ich mit, das wird schon irgendwo seinen Platz finden. Oder auch die am Anfang etwas unklare Rhythmik. Das sind kontrastierende Elemente, die den Kitsch ein bisschen anschleifen.
Ich glaube, das hat mir früher manchmal gefehlt. Manchmal war das ein schöner Song, aber ich habe da nichts gespürt. Und ich bin einfach ein eisenharter Romantiker und ich lass das auch gerne raus. Wenn man bei Musik nichts zum Fühlen hat, dann kann man’s auch lassen.
Ein Professor einer Freundin, die Neue Musik studiert hat, hat der mal gesagt, dass man Leute mit Musik auf gar keinen Fall zum Fühlen bringen soll, sondern immer nur zum Nachdenken. Also wie krass ist das denn? Da mach ich doch besser Sudoku.
Deshalb sind Song-Titel oder -Geschichten auch immer zweitrangig. Am Ende ist meine Musik immer ein Angebot an Leute, selber was daraus zu machen und hoffentlich etwas dabei zu fühlen, immer, egal ob Hecq oder Ben Lukas Boysen, immer.
7 – Fama
Ich hatte am Anfang lange diesen geshuffelten Groove im Loop laufen. Dann habe ich Deckard’s Dream eingeschaltet, und da war dieser Chord-Sound.
Der Riser in der Mitte hat für mich ein starkes Clubfeeling. Dieses Pumpen, das klingt schon wie eine PA am Limit.
Das ist ein OB-X8-Preset, das sich über 32 Take verbiegt. Das pumpt so, weil ich auch hier wieder mit Side Chain komprimiere, aber das über die Zeit immer mehr rein drehe. Da darf man dann auch nicht zimperlich sein, denn es soll ja instabil bleiben, und wenig fühlt sich für mich so instabil an wie pumpendes Side Chaining.
Dieses Hintergrund-Pad, dieses Horn-artige Schweben, ist eine direkte Inspiration von LFOs „Loch Ness“ – ein Stück, das ich als 15jähriger bis zum Umfallen gehört habe, und das genauso funktioniert: ein starken Rhythmus vorne und eine schwebende Atmosphäre hinten. Hör dir das bitte mal an. Wenn dich das mit 15 nicht abholt. Da ist so viel Gefühl drin!
Mein Vater hat mich irgendwann mal darauf gebracht, wie spannend und wichtig Kontraste in der Musik sind – und „Loch Ness“ ist ein super Beispiel.
Zurück zum Track: etwa eine Minute vor Schluss schmiert der Rhythmus dann komplett ab. Ich mag es einfach, akustische Erwartungshaltungen zu enttäuschen. Das klingt jetzt vielleicht böse, aber es belebt die Sache einfach sehr: Es sollte nicht immer das passieren, was der nächste logische Schritt ist. Also frage ich mich immer: Wie kann ich den sabotieren?
Der Outro-Sound ist eine Deckard’s Voice, zweimal aufgenommen, mit einer kleinen Modulationskurve. Da hat man dann natürlich keine Kontrolle, was dabei rauskommt, aber genau das ist das größte Take-Away dieses Albums für mich persönlich. Dass ich einfach auch mal sagen konnte, „Mach du mal was für die nächste Minute – und ich nehme mich jetzt mal zurück.“
8 – Mere
Der richtige Absacker des Albums: komplett Eurorack, fast generativ, sehr langsam modulierte Filter. Ich habe damals den Instruo harmonàig ausprobiert, einen vierstimmigen Quantizer, also eine Art Eurorack Harmonizer. Er war mir dann irgendwie zu kompliziert und ich wusste auch damals nicht so richtig, was ich da gerade tue, aber das führt ja oft zu guten Ergebnissen. Ich glaube, das war der Moment, in dem es nicht nur ein Kampf war mit meinem Modularsystem die ganze Zeit, sondern wo ich mich dann auch endlich verknallt habe. Auf so etwas kommst du einfach nicht auf anderen Wegen. Das komponierst du nicht gezielt, wenn es nicht Aspekte gibt, die dir abgenommen werden und die einfach machen, was sie wollen.
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Text: Ralf Kleinermanns
Fotos: Ole Schwarz