Arushi Jain: Ich bin der Raum dazwischen
Die indische klassische Musik ist Jahrhunderte alt, aber trotzdem in stetiger Veränderung begriffen. Hier dreht sich alles um eine komplexe melodische Matrix, die als Raag oder Raga bekannt ist und in der klassischen Musik des Westens keine Entsprechung hat. Es gibt unzählige Ragas, und jeder beinhaltet eine Reihe von Noten, Motiven und Pattern, mit denen im Raga-Rahmen komponiert wird. Abhängig davon, wie die Eigenschaften eines Raga angewendet werden, können daraus endlos viele Melodien entstehen.
„Meine Lehrer:innen haben das Kennenlernen eines Ragas mit dem Kennenlernen eines Menschen verglichen“, sagt die indische Künstlerin Arushi Jain, früher unter dem Alter Ego OSE bekannt. „Je mehr Zeit man mit ihnen verbringt, desto mehr versteht man ihr Verhalten, ihre Gewohnheiten und individuellen Eigenschaften.“
Mit einem Modularsynth, ihrer Stimme und Ableton Live produziert Jain ausgedehnte Ragas, die zwischen schillerndem Ambient, stimmungsvollen Drones und minimalem Glitch rangieren. Diese Klanglandschaften sind experimentell und gleichzeitig tief im Geist der Hindustani-Musik verwurzelt – einem klassischen nordindischen Idiom, das sich von der karnatischen Tradition Südindiens unterscheidet. Jains detailreiche Rhythmen und hauchzarten Vocals erscheinen auf dem eigenen Label Ghungru und sind zugleich absorbierend und atmosphärisch dicht. „Ich bin keine Musikerin der westlichen oder indischen klassischen Musik, sondern der Raum dazwischen“erklärt sie in unserem Videochat.
Ragas haben je nach Tageszeit und Kontext verschiedene Stimmungen – eine zentrale Eigenschaft, die sich auch auf Jains DebütalbumWith/Without von 2019 widerspiegelt. Der Opener „I Feel Incomplete Without Sound“ baut auf dem meditativen und sanften Morgen-Raga Bhairavi auf. Das folgende Stück „Drown Out The Noise With Your Silence“ ist dynamischer und vom Nachmittags-Raga Bhimpalasi inspiriert: „Für heiße Nachmittage, an denen man draußen sitzt und herumlaufende Tiere beobachtet“, so Jain. Ihr nächstes Album Under The Lilac Sky, das im Mai erscheinen wird, ist hingegen hauptsächlich von Abend-Ragas beeinflusst.
„Ich erwarte nicht, dass allen meine Musik gefällt, aber ich will, dass sie möglichst viele Leute hören“, sagt die aufstrebende Produzentin, die gerade einen Umzug von San Francisco nach New York macht. In den letzten anderthalb Jahren hat ihre Musik bereits international Wellen geschlagen. Jain moderiert regelmäßig Radiosendungen auf NTS und dem indischen Sender boxout.fm. Darüber hinaus hat sie bereits mit einer modernen Tanzgruppe und mit der legendären Synthesizer-Künstlerin Suzanne Ciani zusammengearbeitet.
Zwei Ausbildungen: Hindustani-Musik und Programmierung
Jains Fähigkeit, traditionelle Klänge mit modularen Maschinen zu interpretieren, hat sie sich über das Studium der klassischen Musik und Informatik angeeignet. Als Kind begann sie eine umfangreiche hindustanische Gesangsausbildung, die sie später zum renommierten Ravi Shankar Institut für Musik und darstellende Kunst in ihrer Heimatstadt Neu-Delhi führen sollte. Als Mitglied des Mozart Choir of India, einer Zusammenarbeit zwischen der österreichischen Botschaft, dem Ravi Shankar Institute und dem Vienna Boys Choir, wurde sie während ihrer Tournee durch Indien und Österreich auch mit westlicher klassischer Musik vertraut.
Später zog sie nach Kalifornien, um an der Stanford University Engineering und Coding zu studieren, und legte aus Zeitgründen eine musikalische Pause ein. Nachdem sie sich ein Jahr frei genommen hatte, um für gemeinnützige technische Organisationen in Kenia und Palästina zu arbeiten, kehrte sie für ihr Abschlussjahr nach Stanford zurück, um dort Musik und Programmierung zu verbinden. Einer der belegten Kurse sollte sich als wegweisend für ihre weitere Karriere herausstellen: „Ich habe im Centre for Computer Research in Music and Acoustics den Kurs „Laptop Orchestra“ besucht, in dem man mit dem Laptop und einer Audio-Programmiersprache ein Software-basiertes Instrument entwickelt“, erzählt Jain. „Im Grunde habe ich mich da mit der Philosophie des Instrument-Designs und der ganzen Welt der Klangsynthese befasst. In diesen Monaten wurde mir klar, dass der Klang von Instrumenten in erster Linie davon bestimmt wird, wie wir sie spielen und mit ihnen interagieren.“
Diese Erkenntnis brachte sie dazu, Hindustani-inspirierte Musik auf nicht-traditionellen Instrumenten zu machen. Und es war naheliegend, dass der modulare Synthesizer zu ihrem Lieblings-Tool wurde. „Warum ein Modularsynth? Er hat ein sehr einfaches Konzept. Beim Programmieren gibt es eine Funktion – sie ist eine Arbeitseinheit. Ich mache eine Eingabe und bekomme je nachdem, was die Funktion macht, ein bestimmtes Ergebnis. Sobald ich eine Reihe von Funktionen festgelegt habe, überlege ich mir, wie ich sie im Hauptprogramm nutzen will. Es ist mir egal, was in der Funktion passiert – es geht nur um die Eingänge und Ausgänge. Das ist eine Art von Arbeitsorganisation.“
„Ich bin keine Musikerin der westlichen oder indischen klassischen Musik, sondern der Raum dazwischen“
Als Jain sich zum ersten Mal einen modularen Synthesizer anschaute, erkannte sie sofort die Ähnlichkeiten zum Programmieren: „Ich sah eine Reihe von Arbeitseinheiten, zum Beispiel Eingänge“, erklärt sie. „Modulare Synthesizer haben zwar ein anderes Format als Computerprogrammierung – CV statt Binärcode. Aber es ist das gleiche Konzept: Es gibt Arbeitseinheiten, die mit bestimmten Funktionen oder Modulen kombiniert werden: Klangerzeuger, Modulationsquellen und so weiter. Für mich entsprechen die Module verschiedenen Arten von Funktionen, und jedes benötigt eine bestimmte Art von Eingabe, um das gewünschte Ergebnis zu liefern. Diese Perspektive hilft mir, eine visuelle Karte der Aktionen meines Klang-Schaltkreises zu erstellen.“
Die Dinge visuell-analytisch anzugehen und zu wissen, was ein Schaltkreis macht: Zwei Dinge, die Jain als ausgebildete Ingenieurin verinnerlicht hat. Die damit verbundene Ungewissheit mag für Andere beunruhigend sein – für Jain ist sie ganz normal. Und als Senior Software Engineer bei Reddit ist sie das Chaos sowieso gewohnt. Sie arbeitet an der Software, mit der andere Ingenieur:innen programmieren: Systemarchitektur, die ganz ähnliche Fähigkeiten erfordert wie die modulare Architektur. „Bei meinem Job muss ich mir ein Problem anschauen und genug über das gesamte System wissen. Dann kann ich feststellen, wo das Problem liegt“, erklärt sie. „Alles steht miteinander in Verbindung, und das ist der Funktionsweise eines Synthesizers sehr ähnlich. Wenn ein Dienst nicht funktioniert, muss ich wissen, was bei den damit verbundenen Diensten passiert, um die ursprüngliche Quelle des Problems aufspüren zu können.“
Darüber hinaus befasst sich Jain auch mit Audio-Programmierung und entwickelte in Python eigene Synthesizer: „Irgendwann werde ich die Module meines Synths bestimmt selbst programmieren“, sagt sie. „Ich kann bereits Code schreiben, der auf jedem der Module läuft, habe aber noch nicht so viel Zeit in diese Welt investiert. Auf Arbeit programmiere ich den ganzen Tag. Aber wenn ich Musik mache, will ich mich weniger damit beschäftigen.“
Ragas komponieren
Jain, die manchmal das Alter Ego 'Modular Princess,' wählt, beginnt ihre Kompositionen meist mit eigenen Vocals, ihrem Harmonium oder dem Keyboard. „Wenn ich Harmonien komponiere, summe ich sie zuerst“, erklärt sie. Während die meisten anderen modularen Künstler:innen integrierte Sequenzer nutzen, verwendet sie Ableton Live – vor allem wegen der Länge ihre Melodien. „Diese Idee stammt aus der westlichen klassischen Musik – in der indischen klassischen Musik sind Komponist:in und Performer:in dagegen eins. Und gute klassische Musiker:innen komponieren und performen gleichzeitig. Mein erstes Instrument war meine Stimme, und als ich mit dem Komponieren loslegte, habe ich das Konzept der westlichen Klassik übernommen, bei der Komponist:in und Interpret:in getrennt sind.“
Im Anschluss an das Sequenzieren wendet sich Jain dem Sound Design zu. „Ich gehe da ganz anders vor als viele andere, bei denen Komposition und Sound Design Hand in Hand gehen“, erklärt sie. „Das ist auch nicht die modulare Herangehensweise – die meisten Künstler:innen komponieren nicht so viel“. Für die Synchonisation ihres Synths mit Ableton nutzt sie das Mutable Instruments-Wandlermodul Yarns.
Für ihre Performances komponiert Jain meist im gedanklichen Rahmen einer bestimmten Tageszeit und wählt einen entsprechenden Raga aus, den sie dann interpretiert. „Zuerst setze ich mich mit den Ragas auseinander und höre mir großartige Musiker:innen an, zum Beispiel Nikhil Banerjee und Ali Akbar Khan. Außerdem analysiere ich die Form und Struktur der Kompositionen, die ich bereits gelernt habe, um mich für meine eigenen Kreationen inspirieren zu lassen.“
Der Unterschied zu den traditionellen Raga-Versionen besteht darin, dass Jain mit Melodien und Harmonisierung arbeitet – beides gibt es in der indischen klassischen Musik nicht. „Weil ich für einen Computer komponiere, ist die Geschwindigkeit, mit der ich die Noten spiele, oft viel höher als bei den Meister:innen“, sagt sie. „Und ich arbeite auch viel mit Layern. Die indische klassische Musik basiert auf Leads und Soli – es geht viel um Improvisation und die Kommunikation zwischen mehreren Instrumentalist:innen, die sich beim Spielen abwechseln. Als Solokünstlerin spiele ich mehrere Melodien gleichzeitig – fast wie bei einem Orchester.“
Im weiteren Sinne kann diese Abweichung von der Tradition aber auch perfekt in die Tradition passen. Jain erinnert sich an ein Gespräch mit Anoushka Shankar, der Tochter des legendären Musikers Ravi Shankar, in dem diese die indische klassische Musik als „im ständigen Wechsel und ständig in die moderne Zeit gebracht“ beschreibt – „weil es darin so viel Improvisation gibt“. Diese Wesensart lässt sich nicht nur den Sitars und Tablas zuschreiben, sondern auch den Modularsynths und Computern. Dies erklärt auch, warum Jain nie die Kompositionen von anderen Musiker:innen spielt: „Das kann man in der klassischen indischen Musik durchaus machen, aber die Kompositionen müssen durch Improvisation verändert werden – damit sie persönlich und einzigartig sind“, erklärt sie. „Die Musik muss ein Teil von mir werden – so habe ich das gelernt.“
Mikrotonale Musik mit Tools für westliche Skalen
Die traditionelle indische Musik ist mikrotonal – ihre Noten und Stimmungen passen nicht in das gleichstufige Zwölftonsystem der westlichen Musik. Und damit sind natürlich auch die Instrumente mikrotonal. Für den modularen Synthesizer gilt das jedoch nicht, und deswegen ist es für Jain auch schwierig, live zu improvisieren.
„Wenn ich live spiele, spüre ich eine gewisse Starrheit – der Modularsynth lässt nicht so viel Raum für freie mikrotonale Musik, wie es meine Musik eigentlich verlangt“, erklärt sie. „Die klassische Musik Indiens entstammt der Sitar, der Vina und der Sarod – alles Instrumente mit eingebauter mikrotonaler Kontrolle. Die fehlt bei meinem Instrument. Logic lässt mich Skalen runterstimmen, aber der Modularsynth erlaubt nur absolute Stimmungen. Wenn ich ein C spiele, kann ich das verstimmen, aber dann werden alle Noten der Skala verstimmt. Ich wünsche mir, dass ich einzelne Noten verstimmen und die Notenintervalle verändern kann – aber das geht in Ableton nicht. Oder ich habe es noch nicht herausgefunden.“
Bei akustischen Instrumenten sieht das ganz anders aus. Der indische Pianist Utsav Lal beispielsweise stimmt seinen Flügel so, dass er damit bestimmte Ragas spielen kann. Eine Maßnahme, die Jain kaum ergreifen kann, da sie mit MIDI arbeitet – dem universellen musikalischen Protokoll, das für die gleichstufige Stimmung der westlichen Musik entwickelt wurde. MIDI anzupassen ist sehr kompliziert, und ein eklatantes Beispiel für die tief verwurzelte kulturelle Voreingenommenheit der elektronischen Musikproduktion: „Alles in der elektronischen Musik basiert auf MIDI und es gibt nur wenige Möglichkeiten, um in anderen Skalen etwas gut klingen zu lassen“, sagt Jain.
Als Antwort auf diese Herausforderungen hat der irakisch-britische Komponist und Musikforscher Khyam Allami zwei Browser-basierte Tools entwickelt und im Januar 2021 im Rahmen des CTM Festivals vorgestellt. Eines dieser Tools – Leimma – erlaubt eigene Stimmungen, die sich dann mit dem zweiten Tool Apotome für mikrotonale Kompositionen nutzen lassen. Für Jain ist dies zwar ein Schritt in die richtige Richtung, aber noch nicht ausreichend: „Als Musikerin will ich das ja auf meinem eigenen Instrument anwenden – und nicht auf einer weiteren Plattform“.
Zur Erweiterung ihrer Performance bindet Jain neuerdings ein Klavier ein, um mehr improvisieren und mit traditionellen Ragas spielen zu können, die bislang lediglich Referenzpunkte für ihre Kompositionen darstellten.
Für die Zukunft hat sich Jain vorgenommen, noch mehr in die Idee einzutauchen, dass klassische indische Musik auch mit nicht-traditionellen Instrumenten wie Violine, Gitarre und Harfe gespielt werden kann. „Komponisten wie Amjad Ali Khan – ich bin begeistert von dem, was er macht. Er hat schon mit kompletten Sinfonieorchestern zusammengearbeitet und ihnen gezeigt, wie klassische indische Musik gespielt wird. Und das klingt großartig. Es erweitert den eigenen Klanghorizont und bahnt den Weg zu traditionelleren Stücken. Dieses Thema will ich in meiner NTS-Show unbedingt weiterverfolgen.“
Text und Interview: Nyshka Chandran
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Fotos: Avarna Jain