Anomalie: Tasten, Akkorde und Beats
Ist Anomalie ein perfekt spielendes Jazz-Ensemble? Oder Studiozauberei? „Sowohl als auch – und sogar noch mehr“, könnte die Antwort sein. Anomalie ist das Projekt von Nicolas Dupuis und in seiner Vielfalt von der lebendigen Musikszene Montreals geprägt – Jazz, HipHop und elektronische Musik sind die Koordinaten seines einzigartigen Stils. Dupuis ist auf der Pop-Bühne zu Hause, doch aus seinen Akkordfolgen sprudelt der Jazz. Er kann Jazzfans mit seiner Improvisation beeindrucken, aber seine aufgenommen Stücke sind allesamt Songs – präzise produziert und gefühlvoll arrangiert.
Anomalie wurde mit viralen Solo-Performance-Videos, Auftritten mit Liveband und exzellenten EPs bekannt – zum Beispiel Métropole Part II, der ideale Soundtrack zur Lektüre dieses Artikels. Depuis ist ein vielbeschäftigter Musiker, nahm sich aber gerne Zeit für ein Interview mit David Abravanel, um über Akkordfolgen, musikalische Einflüsse und das Musikmachen mit Laptops und akustischen Instrumenten zu sprechen.
Deine Performance-Videos machen deutlich, wie du Improvisation in deine Songs integrierst. Wie findest du im Studio und auf der Bühne das richtige Verhältnis zwischen Arrangement und Improvisation?
Bei mir bildet die Improvisation das Fundament der anfänglichen kreativen Phase – bei Jam-Sessions oder wenn ich nach neuen Ideen suche. Aber meine Arrangements oder die Anomalie-Liveshow sind das genaue Gegenteil davon. Die Musik soll sehr präzise arrangiert und vorbereitet rüberkommen, egal ob es um Soli oder bestimmte Parts geht.
Auf der Bühne neigst du dein Keyboard immer Ieicht nach vorne – so kann das Publikum alles gut mitverfolgen. Macht das eigentlich einen Unterschied beim Spielen?
Bei manchen Läufen muss ich schon üben, damit sie mir mit diesem Winkel gelingen, doch es ist keine große spieltechnische Herausforderung. Aber es hat eine große Wirkung auf das Publikum – die Show ist einfach unterhaltsamer. Es gibt keine Sänger in der Band und ich kann keine große Bühnen-Action machen. So kann ich die Konzerte unterhaltsamer gestalten und es passt auch zu den gelegentlichen Interaktionen mit dem Publikum.
Ganz am Anfang – also bevor ich meine erste EP Métropole veröffentlichte und hauptsächlich mit meiner aktuellen Live-Band auf Tour war – spielte ich ein Jahr lang Keyboard bei Gramatik. Er performt bei vielen EDM-Festivals und ist auch als DJ aktiv, immer zusammen mit einem Instrumentalisten. Zur Zeit wird er von einem richtig guten Gitarristen begleitet, mein Vorgänger war ebenfalls ein Gitarrist. Bei der Gramatik-Show spielte ich im Grunde genommen einfach über seine Tracks – es wurden keine Elemente aus seinen Tracks genommen, um für mich Platz zu schaffen. Es waren reine Improvisationen oder einfach Klangtexturen, manchmal auch Piano-Jams zwischen zwei Tracks. Aber im Grunde war alles nur eine Ergänzung zu dem, was es schon gab.
Bei Festivals wird ja selten deutlich, was die Musiker auf der Bühne machen. Die Leute sind auch nicht da, um einer Band auf die Finger zu schauen, sondern wollen sie in erster Linie hören. Manchmal hatte ich den Eindruck, dass mein Keyboard das Publikum verwirrte, im Internet wurde ich sogar des Fakens bezichtigt. Ich denke, dass es an der Perspektive des Publikums liegt: Es kann schwer nachvollziehen, was passiert. Das brachte mich dazu, die Tastatur ein wenig nach vorne zu neigen. Ich wollte damit beweisen, dass ich nicht fake, aber das Ganze auch interessanter machen und den Leuten eine gedankliche Verbindung ermöglichen. Selbst wenn viele Sounds zu hören sind und nicht jeder Ahnung von Synthesizern hat, kann man immer noch denken: „OK, ich höre diese Melodie, ich höre eine Art Hall und ich sehe, wie sich die Finger bewegen“. So wird alles offensichtlicher.
Du hast mal gesagt, dass du dich gut damit fühlst, einen Laptop auf der Bühne zu verwenden – oder sogar mehrere. Wie passt das mit deiner Liveband zusammen?
Der einzige von uns, der live keinen Laptop nutzt, ist der Drummer. Aber das Drum-Kit ist ein hybrides Kit mit einem Drum-Pad und Triggern. Es ist also viel Elektronik im Spiel. Für alle anderen – also für mich und den zweiten Keyboarder / Bassisten – kommen alle Sounds aus Laptops mit Ableton-Live-Sessions. In meiner Session werden Backing-Tracks abgespielt und alle Patches sind automatisiert – ich habe mehrere Instanzen, die an- und ausgeschaltet werden. Bei den anderen ist es dasselbe Prinzip, aber sie wechseln die Patches manuell. Egal ob Effekt-Rack, Synth-Patch, oder virtuelle Pedale für den Bassisten – alles passiert in Ableton-Sessions auf unseren Computern.
Und wie bleibt ihr synchronisert – mit Link?
Wir synchronisieren die Laptops nicht, weil wir keine temposynchronen Effekte oder Sidechains auf Effekt-Patches brauchen. Die verwendete Sidechain und alles andere, was taktgebunden ist, befindet sich auf meinem Computer. Vielleicht probieren wir Link irgendwann mal aus, aber im Moment ist alles voneinander unabhängig und die drei Computer dienen hauptsächlich als Klangquellen.
Kommen die meisten Sounds von deinem Keyboard? Oder nutzt du Plug-ins? Oder Samples?
Ausschließlich Plug-ins.
Welche?
Ich bin seit Jahren ein treuer Spectrasonics-User, die meisten Patches sind von den Omnisphere-Synths. Für die Piano-, Rhodes- und alle Keyboard-Sounds nutze ich Keyscape, ebenfalls von Spectrasonics. In letzter Zeit kam aber auch der neue Synth Wavetable auf der Bühne zum Einsatz. Und ich nutze fast ausschließlich Ableton-Effekte – Reverb, Chorus, Delays, EQs und Kompressoren.
Wie schaltest du zwischen Effekteinstellungen um?
Das Wechseln zwischen Patches, Verändern von Effekten und Laden von Effekt-Racks wird durch Automation gesteuert. Ich mache sehr viel mit der Ketten-Liste in MIDI-Effekt-Racks, VST-Racks und Effekt-Racks – die Ketten werden für bestimmte Tracks oder Songpassagen aktiviert und deaktiviert.
Wir drei machen beim Livespielen alles in der Arrangement-Ansicht. Die Lokatoren dienen im Grunde zum Wechseln zwischen Songs. Wenn ich beispielsweise von Song 1 zu Song 2 gehe, werden alle Patches in Song 1 deaktiviert und die Patches von Song 2 geladen. Und wenn ich die Wiedergabe starte und dem Backing-Track folge, geschieht die komplette Patch- und Effekt-Automation für den aktuellen Track auf den damit verbundenen Spuren.
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Hinweis: Um die Controller-Mappings von Anomalie nachzubilden, haben wir alle grünen MIDI-Spuren mit Patch-Auswahl-Makros versehen. Bewegen Sie die Lokatoren zu den verschiedenen Spur-Markern, um die jeweiligen Instrumente und Effekte zu aktivieren. Dieses Live-Set beinhaltet mehrere Wavetable-Presets von Anomalie und erfordert Live 10 Suite.
Und wie arbeitest du im Studio an deinen Veröffentlichungen? Solo oder mit deiner Band?
Auf der EP sind ausschließlich meine Overdubs.
Interessant – auf Métropole Part II sind auch Hörner zu hören.
Ich spiele Klarinette. Im Song „Madison“ gibt es Hörner und Holzbläser – mehrere Klarinetten-Overdubs, manchmal auch ein Effekt-Rack mit Pitchshiftern und anderen Effekten, die die Klarinette wie ein Saxofon klingen lassen. Aber die Posaunenakkorde und anderen Bläser sind VSTs – erweitert durch die Klarinette, damit sie wärmer klingen.
Welcher Part kommt beim Komponieren zuerst? Fängst du manchmal mit den Drums an, manchmal mit den Keyboards, manchmal mit Streichern?
Wenn ich bereits eine musikalische Idee habe, beginne ich meist mit einem Klavier. Oder ich improvisiere und nehme die gefundenen Ideen mit einem Piano- oder Rhodes-Sound auf. In den meisten Fällen entsteht auf diese Weise die Melodie oder Akkordstruktur. Manchmal öffne ich aber auch ein Live-Set, entwickle einen Drum-Loop und baue dann den Track darauf auf. Oder ich nehme mir vor, coole Patches zu entwickeln, die ich später verwenden kann, und daraus entsteht dann plötzlich ein Riff. In diesem Fall beginnt es dann direkt mit dem Synth-Patch.
Vermischen sich diese Herangehensweisen manchmal? Trennst du das Sound Design überhaupt von den Melodien, Riffs und Akkorden?
Ich habe eine eigene Aufteilung für den kreativen Prozess entwickelt. Es gibt die anfängliche Ideen-Phase und dann die Arrangement-Phase, die bereits mit der Produktions-Phase zusammengeht. Aber es gibt auch den nächsten Schritt, in dem ich mich auf die Produktion, den Mix und das Mastering konzentriere. An manchen Tagen befasse ich mich nur mit einer Phase, an anderen mit allen – am Ende wird dann ein neuer Song daraus.
Deine Songs haben oft eine kompakte Länge, sind aber gleichzeitig von komplexen Jazz-Akkordfolgen geprägt. Wodurch wird deine Akkord-Auswahl beeinflusst?
Interessant, dass du die Songlängen erwähnst. In Vergleich zu Altersgenossen, die eher in der Jazz- oder Jazz-Fusion-Welt zu Hause sind, nutze ich Songstrukturen, die näher am Pop sind. Strophe-Refrain, vielleicht eine Bridge, dann wieder Strophe-Refrain – anders als beim Schema A-B-C-D-E-F wiederholen sich meine Patterns und Melodien.
Ich nutze unterschiedliche Akkord-Texturen – manche stammen aus dem traditionellen Jazz, andere aus der Klassik oder von Techniken der Orchestrierung, die ich interessant finde. Ich höre immer noch regelmäßig klassische Komponisten, meine Favoriten sind Brahms und Strawinsky. Aber eigentlich sind beim Komponieren am Klavier vor allem die Akkordfolgen wichtig, die ich seit meiner Jugend gelernt habe.
Ich beginne alle Ideen am Klavier, dann arrangiere ich sie und wähle die Synth-Sounds dafür aus. Anschließend komponiere ich den kompletten Song auf Basis der ursprünglichen Idee – meist eine Akkordfolge und/oder eine Melodie.
Interessant, dass du Strawinsky erwähnst – bekanntermaßen kam die Premiere seines Werks „Le sacre du printemps“ seinerzeit nicht so gut an. Spürst du ebenfalls Widerstände, wenn du diese beiden Welten zusammenbringst?
Glücklicherweise nicht – bei mir passte der Zeitpunkt. Die Neo-Soul-Bewegung wurde in kurzer Zeit sehr erfolgreich, und ich passe teilweise in diese Welt. Meine Idee, Dilla- oder HipHop-inspirierte Drums mit Synths, Akkorden und klassischen bzw. R&B-Produktionstechniken zu verbinden, ist den Leuten jedenfalls nicht fremd.
Zuerst hatte ich eine sehr kleine Fanbase – sie waren für meine Musik sehr aufgeschlossen, was ziemlich ermutigend war. Dann wurde mein Publikum kontinuierlich größer, vor allem dank der sozialen Medien. Klar – manchmal gibt es auch negative Kommentare, aber das gehört einfach dazu. Ich würde nicht sagen, dass es viel Widerstand oder explizite Kritik am Vermischen dieser Welten gibt.
Welche Musik hat dich beeinflusst? J Dilla spielte eine wichtige Rolle, wie ich gehört habe.
Für die Drum-Programmierung war J Dilla definitiv ein großer Einfluss, vor allem in Tracks wie „Velours“ oder „Le Bleury“ auf meiner ersten EP. Das gilt aber nicht nur mich, sondern auch für zahllose andere Musiker und Produzenten. Robert Glaspers Album Black Radio hat mich ebenfalls stark beeinflusst – ein musikalischer Meilenstein, der die Releases von anderen Künstlern geprägt hat, zum Beispiel Moonchild (ich bin ein großer Fan von ihnen), Tom Misch und Jordan Rakei. Aber Robert Glasper und viel früher Erykah Badu, Lauryn Hill und all die anderen – egal ob in den 1990ern, frühen 2000ern oder heute – alle sind sie Teile des selben Universums. Was sich mit der Zeit verändert, ist vermutlich die Zahl der verschiedenen Einflüsse. Und die Produktion spielt eine immer wichtigere Rolle.
In Montreal gibt es gleich mehrere lebendige Musikszenen – wie hat diese Umgebung dich beeinflusst?
Montreal ist inspirierend, ich liebe die Stadt – dort bin ich aufgewachsen und sie ist auch das Thema beider Métropole-EPs. Mir gefällt die musikalische, kulturelle und soziale Zweisprachigkeit. In Montreal spricht fast jeder Französisch und Englisch. Das bringt spannende Projekte hervor, und man trifft interessante Leute. Man hat beide Szenen auf einmal – es gibt die französischsprachigen Singer/Songwriter, über die in den Medien der Provinz Québec mehr berichtet wird. Und es gibt die englischsprachigen Musiker, die erstaunlicherweise mehr Underground sind, weil weniger über sie berichtet wird. Mich inspiriert die Dynamik der kleinen Clubs – egal ob dort Jazz-, HipHop- oder Popkonzerte stattfinden.
Für mich war es ein absoluter Wendepunkt, Mitglied der Hausband bei der HipHop-Jamsession Le Cypher zu sein, die jeden Donnerstag stattfindet – ein wunderbarer Abend. Ich bin seit zwei Jahren dabei und spiele dort alle zwei bis drei Wochen 1990er-HipHop, zusammen mit tollen Musikern, Sängerinnen und MCs. Das ist ebenfalls eine große Inspiration für mich.
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