Andrey Sirotkin: In der Ukraine ist die Musik mein Zufluchtsort
Das aktuelle Weltgeschehen beeinflusst wohl die meisten Musiker:innen in ihrer Arbeit: Kaum hatte sich die Gesellschaft auf den Weg der Erholung von der Pandemie gemacht, begann mit dem russischen Angriff auf die Ukraine schon die nächste schwere Krise. Angst und Verwirrung hielten Einzug in das Alltagsleben der ukrainischen Zivilbevölkerung. Oft blieb nur wenig Zeit, die Koffer zu packen und sich in Sicherheit zu bringen.
In derartigen Krisensituationen ist es kaum vorstellbar, dass noch Raum bleibt, um kreativ zu werden und Musik zu machen. Die Geschichte hat jedoch gezeigt, dass sich Kunst und Kreativität auch unter den schlimmsten Umständen ihren Weg bahnen. Im Mai 1940 komponierte der Franzose Olivier Messiaen sein berühmtes Stück „Quatuor pour la fin du temps“ („Quartett für das Ende der Welt“) im Kriegsgefangenenlager VIII-A in Görlitz. Ungefähr zur selben Zeit entstand in Leningrad Dimitri Schostakowitschs 7. Symphonie, während die Stadt von den Deutschen belagert und ausgehungert wurde.
Geschichte wiederholt sich nicht, aber manchmal gibt es Parallelen – und heutige Berichte von Musikschaffenden in der Ukraine erinnern durchaus an Messiaen und Schostakowitsch.
Der in Kiew lebende DJ und Produzent Andrey Sirotkin sprach kürzlich mit uns darüber, wie sich die Kriegswirren auf seine Musik auswirken. 2007 begann er unter dem Pseudonym I Wanna Be mit Dubstep und Drum-and-Bass seine musikalische Laufbahn, später produzierte er Techno als Shade Of Drums. Inzwischen veröffentlicht Sirtokin unter eigenem Namen. Er ist von modularer Synthese fasziniert und kombiniert eine deepe Dub-Ästhetik mit eindringlichen Pad-Sounds und hypnotisch-perkussiven Melodien.
Beliebte Tracks von Andrey Sirotkin
Andrey, vielen Dank, dass du uns für ein Interview zur Verfügung stehst. Welche Auswirkungen hat der Krieg auf dich als ukrainischer Musiker?
Am 24. Februar fühlte es sich an, als hätte ich alles aus meinem vergangenen Leben verloren. Schon am nächsten Tag verließ ich Kiew mit meiner Frau und meiner Tochter – es ging nach Lwiw im Westen des Landes. Ich hatte nur ein Handy, einen langsamen Laptop, zwei Hosen und zwei T-Shirts dabei. Alles andere musste ich zurücklassen – natürlich auch mein Studio und mein Equipment.
Wir waren alle sehr gestresst und ratlos, wie es weitergeht. Aber tief in meinem Inneren wusste ich, dass ich gar nicht versuchen will, dem Ganzen zu entkommen – geschweige denn Kiew zu verlassen. In Lwiw zogen wir dann von einer Wohnung in die andere um – es ist sehr schwierig, dort eine feste Bleibe zu finden. Weil viele Leute dorthin geflohen sind, sind die Mieten sehr hoch. Man findet dort einfach keine Wohnung. Deshalb dachte ich: OK, dann lass uns eben in Kiew bleiben.
„Ich dachte mir: Wenn irgendwo in der Nähe eine Rakete einschlägt, werde ich nicht mehr da sein. Aber wenigstens meine Musik.“
So lange war ich wahrscheinlich noch nie von meiner Musik getrennt. Ich dachte ständig an mein Studio. Am meisten vermisste ich die Festplatte meines Desktop-Computers, mit all den neuen Tracks darauf. Ich dachte: „Wenn ich nur in mein Studio in Kiew zurückfahren und diese Festplatte holen könnte, wäre alles in Ordnung.“ Von diesem Punkt an war mir klar, dass ich all die Tracks auf der Festplatte veröffentlichen will. Ich konnte sie einfach nicht zurücklassen. Neulich habe ich in einem Video folgendes Zitat gesehen: „Don't let the music die inside of you“. Und das hat mich hart getroffen. Ich dachte mir: „Wenn irgendwo in der Nähe eine Rakete einschlägt, werde ich nicht mehr da sein. Aber wenigstens meine Musik. Was kann ich also mit meinem Laptop anstellen?“ Da waren drei fertige Tracks drauf – alle noch nicht veröffentlicht. Ich schickte sie zum Mastern, um das so schnell wie möglich zu ändern. Zur Zeit versuche ich, alle drei Wochen Musik rauszubringen.
Konntest du während deiner Zeit in Lwiw neue Musik machen?
Ich musste einen Weg finden, ohne mein Studio Musik zu machen. Also habe ich meine AirPods an den Laptop angeschlossen. Ich fand heraus, dass viele Musiktechnologiefirmen ukrainische Produzent:innen und Musiker:innen mit Rabatten und Testversionen unterstützen, und holte mir die Testversion von Ableton Live. Mit allem, was ich brauchte, um Musik zu machen – sogar auf meinem langsamen Laptop.
Die ersten Sessions liefen nicht so gut, aber nach einer Weile hatte ich den Dreh raus. Ich nutze jetzt viele Plug-ins und habe alles auf dem Laptop – das ist einfacher, als mit Hardware zu arbeiten. Neulich habe ich einen Track namens „My Shelter“ veröffentlicht, den ich komplett in Ableton Live und mit Plug-ins produziert habe.
Als mir dann klar wurde, dass ich auf diese Weise weitermachen kann, ließ das Gefühl des Verlustes ein wenig nach. In Gesprächen mit befreundeten Produzent:innen in Lwiw fand ich heraus, dass sie ganz anders auf die Situation reagieren: Sie haben sich komplett von der Musik abgekoppelt – einfach weil ihnen dazu gerade jeglicher Bezug fehlt. Bei mir ist das anders. Ich denke mir: „Ich bin gesund, meine Familie auch, also kann ich mich um das Drittwichtigste kümmern: die Musik.“ Manchmal denke ich, das ist verrückt – aber so denke ich einfach.
Also bist du jetzt wieder in Kiew?
Ja, seit dem 8. Mai bin ich zurück. Auch zurück in meinem Studio, und es ist alles in Ordnung. Ich versuche, so viel Zeit wie möglich da zu verbringen.
Ist dein Job davon betroffen?
Ich bin ins Home Office gewechselt. Für mich macht es nicht so viel Sinn, im Büro zu sein, weil fast alle meine Kolleg:innen von zu Hause aus arbeiten. Ein weiterer Grund: Ich arbeite in der Autoindustrie, und unsere Gebäude könnten mit Militärgebäuden verwechselt werden. Die Russen beschießen zwar auch zivile Gebäude, aber wenn sie denken, dass unsere Büros mit dem Militär in Verbindung stehen, kann das für uns noch gefährlicher sein. Eines der Firmengebäude ist nicht weit von dem Ort, an dem zuletzt die Raketen einschlugen.
Kannst du derzeit mit anderen ukrainischen Musiker:innen zusammenarbeiten?
Es gab schon mehrere unerwartete Kollaborationen – scheinbar sind die Leute offener geworden. Ich finde immer wieder neue Verbindungen zu den großartigen Menschen hier. Für mein Drum-and-Bass-Projekt arbeite ich mit dem Rapper Knyaz Volodymyr (ukrainisch: Князь Володимир) zusammen. Eine Textzeile lautet: „Ich bin am Leben und will leben, so gut es geht“. Dieses Gefühl haben hier viele.
Ich habe auch viele Verbindungen zur hiesigen Modular-Community Machineroom. Die jammen jeden Freitag, dabei kommen zehn bis fünfzehn Leute, bringen ihr Modularsystem mit und spielen zusammen. Bei der Gelegenheit kann man auch zusammen Tee oder Kaffee trinken und sich über die aktuelle Situation austauschen.
Ich habe einen Musiker kennengelernt, der in einer Funk-Coverband spielt. Der hat eine chinesische Flöte, die einfach toll klingt. Ich habe ihn gefragt, ob wir mal zusammen was aufnehmen können, und er war sofort dabei. Am Ende wurde ein Ambient-Track daraus.
Männer im Alter von 18 bis 60 sind hier eingesperrt. Viele Musiker haben Wege gefunden, das Land zu verlassen. Ich weiß nicht, wie die das geschafft haben – oder welche Dokumente und Genehmigungen dazu notwendig waren. Wer nicht so bekannt ist oder keine Beziehungen hat, muss einfach hier bleiben. Die musikalische Zusammenarbeit hilft vielen von uns dabei, nicht durchzudrehen.
Kann man derzeit noch Musikveranstaltungen organisieren?
Ich kenne eine Initiative, deren Teilnehmer:innen im Osten der Ukraine ein Gebiet besucht haben, das von russischen Raketen getroffen wurde. Ein DJ legte auf, und die anderen beseitigten Trümmer: eine tolle Art zu helfen.
Es finden noch viele andere Veranstaltungen statt, aber nur unter zwei Bedingungen. Zuerst die Ausgangssperre. Wir dürfen ab einer bestimmten Uhrzeit nicht auf die Straße – sonst werden wir von den Streitkräften angehalten und bekommen richtig Ärger. Deswegen muss jede Veranstaltung um 23:00 Uhr zu Ende sein. Bei 99 % der Veranstaltungen wird Geld für medizinische Ausrüstung oder das Militär gesammelt. Viele Künstler:innen nutzen ihren Bekanntheitsgrad, um Spenden für einen guten Zweck zu sammeln, aber leider gibt es auch immer wieder solche, die das Geld in die eigene Tasche stecken. Ziemlich scheiße.
Manche Partys gehen bis zum Morgen, finden aber an geheimen Orten statt, weil das ja verboten ist. Diese Parties sind für alle, die sich gerade schwertun. Natürlich könnten wir alle zu Hause bleiben, aber wenn du denkst, dass du es nicht bis zum nächsten Tag schaffst, helfen dir solche Partys: Diese Leute wollen so feiern, als wäre es die letzte Party. Und das ist OK für mich.
Wie ist die Atmosphäre bei solchen Partys?
Ich selbst war seit dem 24. Februar nicht mehr unterwegs, habe aber mit Leuten gesprochen, die dort waren. Was da abgeht, weiß ich nicht genau – ich habe nur kurze Handy-Videos gesehen und gesagt bekommen, dass ich gerade etwas verpasse. Aber angesichts des täglichen Sirenenalarms und allem, was gerade sonst noch so passiert, will ich nicht riskieren, auf irgendeiner Party eingesperrt zu sein. Denn das Wichtigste hier ist meine Familie. Wenn die irgendwo in der EU oder an einem sicheren Ort leben würde, wäre es viel einfacher für mich, auf Partys zu gehen. Aber hier ist kein Ort sicher. Deswegen ist es für mich das Wichtigste, so nah wie möglich bei meiner Familie zu sein.
Was meinst du: Wie kann Musik in dieser Situation helfen? Hast du eine Botschaft an andere Musikschaffende?
Manche Leute haben Schuldgefühle, wenn sie hier Musik hören oder machen. Aber Musik wirkt für mich wie Medizin, wie Meditation oder Sport.
Ich bin gegen diesen Krieg und will, dass er aufhört. Es gibt aber tatsächlich Musiker:innen, die das nicht sagen, weil sie befürchten, deswegen ihr russisches Publikum zu verlieren. Die meisten Hörer:innen meiner Drum-and-Bass-Tracks wohnen in Russland und ich weiß nicht, was mit ihnen passieren wird. Aber ich fände es unerträglich, nur zu sagen: „Dumm gelaufen“ oder „Dieser Krieg hat nichts mit mir zu tun“. Ich finde, dass ich meine Position erklären muss. Und Gleichgesinnte finden muss, die alles tun, um zu helfen. Zum Beispiel an eine Wohltätigkeitsorganisation spenden, die Kindern hilft, oder zu Spenden an das ukrainische Militär aufruft. Ich weiß, dass viele Leute etwas dagegen haben, weil das Militär Menschen tötet – da könne man ja gleich Waffen kaufen. Aber fühle mich dazu verpflichtet, Haltung zu zeigen, ich muss es aussprechen: Es ist einfach unerträglich, dass Menschen getötet werden – dass in diesem Krieg Kinder sterben. Deshalb finde ich es wichtig, darüber zu sprechen. Und leider genügt es nicht, zu sagen: „Lasst die Waffen schweigen!“
Sirotkins neueste EP „Dusk“ wurde am 12. September veröffentlicht. Alle Einnahmen gehen an das ukrainische Rote Kreuz.