Aho Ssan: Musik aus dem Inneren des Rhizoms
Gemeinschaft ist ein flauschiges Wort. Wenn man es hört, bekommt man sofort ein wohliges Gefühl und denkt an Menschen, die sich beieinander aufgehoben fühlen und sich gegenseitig mit Lächeln, Umarmungen und aufmunternden Worten unterstützen. Leider ist es in der Realität, so sehr man es sich auch wünscht, Teil einer Gemeinschaft zu sein, manchmal nicht so leicht. Es braucht Zeit und Mühe und der französische Produzent Niamké Désiré, aka Aho Ssan, weiß das.
Sein Weg in die Underground-Szene der elektronischen Musik war unkonventionell. Während seines MPI-Studiums (Mathematik, Physik und Informatik) an der Université d’Orsay stieß er zufällig auf Max for Live. Zu dem Zeitpunkt hatte er keine Ambitionen, Musikproduzent zu werden, sondern wollte stattdessen Filme machen. Aber er merkte bald, dass das alleine schwierig sein würde. „Man braucht eine Menge Leute, [um einen Film zu machen]. Man kann es nicht alleine machen“, erzählt er mir über Zoom von seiner Wohnung in Paris aus. „Bei der Musik ist es dagegen sehr einfach, sein eigenes Ding zu machen.“
Désiré ist kein Einsiedler, er kannte nur einfach niemanden, der Musik produzierte. „Ich war einsam in meiner Realität,“ sagt er. „Als schwarzer Künstler, der in Frankreich experimentelle Musik macht, hatte ich nicht viele andere schwarze Künstler, an denen ich mich orientieren konnte.“ Erst nachdem er Simulacres et Simulation des französischen Philosophen Jean Baudrillard gelesen hatte, überlegte er, für sich selbst Musik zu machen. In diesem Buch argumentiert Baudrillard, dass wir uns mit dem Aufkommen von Technologie und Massenmedien so weit von der objektiven Realität entfernt haben, dass ein Begriff einer solchen Realität sinnlos geworden ist. Was für eine Person real ist, ist nicht für andere Personen automatisch auch real. Wenn dies der Fall ist, folgt daraus, dass die Realität jeder Person so formbar ist, wie sie es möchte. In einer Realität also ist Désiré ein Außenseiter in der Welt der Musikproduktion, allein und ohne Unterstützungsnetzwerk, das ihm helfen könnte. In einer anderen jedoch, mit Tools wie Max for Live, ist er ist ein Produzent experimenteller elektronischer Musik, der über genügend Werkzeuge verfügt, um sein eigenes Orchester zu bauen. „Ich bin kein Musiker, aber der Computer hat mir geholfen, auf eine andere Art und Weise Musiker zu werden“, sagt er.
2019 veröffentlichte Désiré sein DebütalbumSimulacrumauf James Ginzburgs Label Subtext Recordings. Es ist das erste Beispiel für Désirés einzigartigen Kompositionsstil – scheinbar aufgebaut auf elektromagnetischen Ranken, die sich über jedes Stück ausbreiten wie Moos über einen Waldboden. Dieses musikalische Gewebe ist wie in sich zerfasert und fragil: Es zittert unter dem geringsten Beben des Subbasses und löst sich auf, kaum dass es sich geformt hat. Es ist fast so, als ob in der losen Textur der Komposition ein Gefühl des Hochstaplersyndroms bemerkbar wird. Ungeachtet des scheinbar verletzlichen Fundaments finden sich einige starke musikalische Elemente darin, wenn man darauf achtet. Im Dunst von „Intro“ und „Outro“ spielen sanfte Blechbläser vorsichtig mit Dur-Klängen, als würden sie sich auf etwas Mutigeres und Hoffnungsvolleres zubewegen. Den Klang der Blechbläser formte Désiré mit Max for Live, indem er versuchte das Spiel seines Großvaters Mensah Antony zu imitieren, der in den 1950er Jahren Trompeter in einer ghanaischen Jazzband war. Désiré hat seinen Großvater nie getroffen, aber durch Gespräche mit Familienmitgliedern erfuhr er von seltsamen Geschichten, die er im Hinterkopf hatte, während er mit Max an dem Sound arbeitete. Eine der Geschichten drehte sich um den Verbleib von Antonys Trompete und einige scherzten, sie hätten sie zuletzt in einer Höhle gesehen. Dies und die Liebe seines Großvaters zum amerikanischen Space-Jazz-Bandleader Sun Ra führte zu der gleichsam nicht-irdischen Präsenz der Blechbläser auf dem Album, die einerseits Désirés entfernte Beziehung zu seinem Opa widerspiegelt als auch treffend die fragmentarischen Erinnerungen an ihn darstellt, die weiterleben.
Simulacrum ist ein Triumph der Fantasie und des Einfallsreichtums und beweist, was eine Person alleine mit nur einem Computer und ein paar Geräten schaffen kann. Und dennoch war es kein einsames Unterfangen. Neben der Inspiration durch Baudrillards Philosophie verdankt Désiré viele seiner künstlerischen Ideen den alltäglichen Gesprächen, die er mit Menschen führt. Er erklärt: „Ich habe das Gefühl, dass die Gespräche, die ich mit Menschen führe, etwas sind, das man mit einem Computer nicht nachahmen kann. Ich spreche von Gesprächen, bevor ich Musik mache – wie zu der Zeit, als ich im Louvre gearbeitet habe. Ich habe mit meinen Kolleg:innen dort nicht über Musik gesprochen. Ich habe über alles Mögliche gesprochen – einfach über das Leben. Und das ist etwas, was ich mit einem Computer nicht machen kann.“
Nach der Veröffentlichung von Simulacrum tourte Désiré mit seinem Projekt um die Welt und traf andere gleichgesinnte Musiker:innen. Nach einem Auftritt beim Donaufestival in Österreich fragten ihn die Veranstalter:innen, ob er bis zum darauffolgenden Jahr etwas entwickeln könnte, das zum Thema kulturelle Aneignung passt. „Und ich sagte: Das ist wirklich verrückt, denn ich lese gerade [mehr oder weniger] ein tolles Buch darüber – Glissants [Kommentar] über Rhizome.“ Edouard Glissants Poetik der Beziehung vertieft das Thema der Rhizome, das der französische Philosoph Gilles Deleuze und der französische Psychoanalytiker Felix Guattari eingeführt haben. Ein Rhizom ist ein „Wurzelgeflecht, ein Netzwerk, das sich entweder im Boden oder in der Luft ausbreitet, ohne dass es einen zentralen Stamm gibt, von dem alle Abzweigungen ausgehen. Der Begriff des Rhizoms hält also an der Idee der Verwurzelung fest, stellt jedoch die Idee einer totalitären Wurzel in Frage.“ Das Rhizom ist das Gegenteil einer hierarchischen (baumartigen) Wurzel, die eine Unterseite und eine Oberseite hat und die Glissant mit einer westlichen kolonialen Wurzel vergleicht, die sich über den ganzen Globus ausbreitet und ihre Art zu sein und zu denken fremden Ländern und Kulturen aufzwingt. Er bezeichnet sie auch als „pfeilartigen Nomadismus“ und stellt diesem den rhizomatischen Ansatz, einen „zirkulären Nomadismus“ – einen Irrweg – gegenüber, der „die Totalität versteht, aber bereitwillig auf jeden Anspruch verzichtet, sie zusammenzufassen oder zu besitzen.“ Man kann sich das als eine Person vorstellen, die einerseits neugierig ist, sich mit Orten und Menschen zu verbinden, die anders sind als sie selbst, und die gleichzeitig weiß und akzeptiert, dass sie die anderen nie ganz verstehen kann, und daher nie versucht, sie zu verallgemeinern oder ihnen ihre Präsenz aufzuzwingen.
Mit den Ideen von Glissant im Kopf wandte er sich an den chilenisch-amerikanischen Komponisten Nicolas Jaar, der kurz zuvor Weavings konzipiert hatte – ein Projekt mit ähnlichen rhizomatischen Themen –, und fragte ihn, ob er daran interessiert sei, bei seinem neuen Projekt mitzumachen, und Jaar sagte zu. Désirés zweites Album, Rhizomes, erschien dieses Jahr und die Künstler:innen, die darauf mitwirken, hatte er entweder durch Jaar oder auf seiner Tour für Simulacrum kennengelernt. Das Album ist eine direkte Weiterentwicklung von Simulacrum, da Désiré darauf – durch die Unterstützung, die er bekommen hat – keine Musiker:innen mehr nachahmen muss. Aber anstatt einfach einige Künstler:innen zu fragen, ob sie an dem Album mitarbeiten wollen, und das rhizomatisch zu nennen, nimmt sich Désiré das Konzept wirklich zu Herzen. Ein Beispiel dafür ist seine Zusammenarbeit mit Blackhaine, die so begann, wie man es erwarten würde: Der Produzent schickt dem Sänger ein Instrumentalstück, der Sänger nimmt den Gesang dazu auf und schickt ihn zur Fertigstellung zurück. Doch als Désiré das fertige Stück wiederum an Blackhaine schickt, beschließt der, noch einmal ganz von vorne zu beginnen. „Ich musste mich damit abfinden, die Kontrolle zu verlieren, um mich wirklich auf die rhizomatische Sache einzulassen. Und ich war sehr sehr glücklich darüber, weil ich alles liebe, was die anderen Künstler:innen beigetragen haben“, erklärt er.
Tatsächlich geht es, je mehr man sich damit befasst, mehr um die anderen Künstler:innen als um Désiré. Dem physischen Album liegt ein Buch bei, das neben den Texten der Stücke auch Strichzeichnungen der Illustratorin Kim Grano enthält, die an die außerirdische Sprache der Heptapoden im Film Arrival erinnern, wo ganze Sätze in einem einzigen kreisförmigen Zeichen enthalten sind. An verschiedenen Stellen des Buches sind auch QR-Codes versteckt, die zu Bonustracks des Albums sowie zu Solotracks einiger Künstler:innen führen, mit denen Désiré früher zusammengearbeitet hat, wie z.B. KMRU. Außerdem werden sogar die Hörer:innen dazu eingeladen, sich am Rhizom zu beteiligen, indem Désiré ein Sample-Pack für sie bereitstellt, das sie in ihrer eigenen Musikproduktion verwenden können. Während er bei der Arbeit mit Blackhaine vielleicht etwas Kontrolle verloren hat, gibt er sie mit dem Sample-Pack komplett ab.
Und er bleibt dieser Idee treu. Er hat sich nämlich freundlicherweise bereit erklärt, zusammen mit seinem Freund Michelis ein Max for Live-Patch exklusiv für diesen Artikel zu erstellen. Kontrollverlust und Zufälligkeit spielen eine große Rolle bei dem Gerät, das über drei Funktionen verfügt: Sequenzer, Arpeggiator und Rhizom. Das Rhizom funktioniert, wie mir Désiré in einem Tutorial-Video erklärt, ähnlich wie eine Wurzel und spielt zufällige Noten im Bereich der Noten, die entweder mit dem Sequenzer oder dem Arpeggiator erzeugt wurden. Er räumt zwar ein, dass das nicht unbedingt direkt zu musikalischen Ergebnissen führt, allerdings kann man anschließend einen Abschnitt der vom Rhizom erzeugten Noten aufnehmen und darin nach einem Muster oder einer Reihe von Noten suchen, mit denen man etwas Musikalisches kreieren kann. Und genau dazu wollen Désiré und Michelis ermutigen – genau zuzuhören, was das Gerät tut, anstatt einfach eine Reihe von Regeln zu befolgen, um schnelle Ergebnisse zu erzielen. „Es ist ein Gerät, das perfekt ist, wenn man neugierig ist und etwas weniger Geerdetes machen möchte“, sagt er.
Lade Rhizomes 1.0 Tools herunter
Erfordert eine Live 11 Suite oder höhere Lizenz
Text und interview von Joseph Franics
Fotos von Marvin Jouglineu