Die Grundsteine der Black Music: Improvisation
Dies ist der letzte Teil einer fünfteiligen Serie.
Hier geht es zu Teil eins, Teil zwei, Teil drei und Teil vier.
Am Anfang war die Improvisation. Was auch sonst: Bevor Musik erinnert, verschriftlicht oder aufgenommen werden konnte, mussten ja erstmal ein paar Höhlenmenschen einfach drauf los spielen. Man konnte der „Angst vor der leeren Leinwand”, der wir auch ausgesetzt sind, wenn wir ein Mikrofon in die Hand nehmen, uns an unser Instrument setzen oder ein neues Ableton-Projekt öffnen, nur mit spontaner Kreativität begegnen. Musik ist für das menschliche Erleben so grundlegend, dass man ihre prähistorischen Ursprünge unmöglich konkret benennen kann. Niemand hat sie erfunden, wir machen sie einfach. Klar ist aber, dass alles mit einem mutigen Hochseilakt begann: der Improvisation.
Improvisation ist der aktive Prozess, in dem wir die Klänge um uns herum spontan zu musikalischem Ausdruck anordnen. Musik entwickelte sich durch die Wiederholung und Verfeinerung jener improvisierten Momente. Klar: Wenn etwas gut klang, dann wollten auch unsere prähistorischen Vorgänger es nochmal hören. Der musikalische Stil nahm Formen an, verschiedene Gruppen gaben ihre eigenen und einzigartigen Sounds von Mensch zu Mensch und von Generation zu Generation weiter. Irgendwann entstanden Notationssysteme und machten es möglich, die einst so flüchtigen Ausbrüche von Kreativität noch akkurater aufzunehmen und weiterzuverbreiten. Die Techniken des Aufnehmens wurden vergleichsweise spät entwickelt, und fungierten noch stärker als ein Speichermedium für Musik. Mit all diesen Entwicklungen ging jedoch auch ein Kompromiss zwischen der Spontanität der Gegenwart und derjenigen der Vergangenheit einher. Manche Kulturen, vorrangig im Westen, entschieden sich eher für die letztere. Andere hingegen, besonders Volksmusik-Traditionen, behielten sich einen flüchtigeren Ansatz: Hier stellte der gegenwärtige Moment die Faszination für Vergangenheit oder Zukunft in den Hintergrund. Den goldenen Mittelweg zwischen beiden finden wir in der Schwarzen Musik.
Improvisation ist für die afrikanische Musik von zentraler Bedeutung. Die Schwarze Musikkultur wird nach Gehör weitergegeben, die Musik findet ihre Verbreitung durch Prozesse kollektiver und spontaner Kreativität. Um zu existieren, muss sie gespielt werden. Dies bedeutet natürlich auch, dass die Einsätze recht hoch sind, und so steht sie auch nicht allen zur völlig freien Verfügung. So wie das Volk der Massai in Kenya und Tanzania sich durch ihre einzigartigen textilen Muster definiert, gibt es auch ganz besondere Rhythmen, die die Musik verschiedener Stämme prägen. Zu stark von der Norm abzuweichen, gilt als Affront gegen das Kollektiv – ein Umstand, der die improvisatorischen Möglichkeiten einzelner Spielender limitiert. Gleichzeitig ist jedoch jedes Individuum dazu ermutigt, sich selbst innerhalb dieses Rahmens auszudrücken, so gut es eben geht. Die Spannung zwischen dem kollektiven Flow und dem individuellen Ausdruck ist elektrifizierend.
Jenes improvisatorische Gleichgewicht zieht sich durch das gesamte Spektrum Schwarzer Musik. Wenn ein Freestyle bei einem Rap-Battle zu frei gerät, fehlt es ihm an Style – man stelle sich vor, jemand ginge auf die Bühne des fiktionalen Clubs von 8 Mile, und begänne, in symbolistischen Versen zu rappen. Das wäre sicherlich sehr originell, würde für Yung Mallarmé aber nicht besonders gut ausgehen. Man könnte sich auch von der Masse abheben, in dem man ein Flamenco-Set in der Panoramabar spielt – aber eben nur, wenn man es im wahrsten Sinne des Wortes auf ein einmaliges Erlebnis abgesehen hat. Und in der Realität finden derart radikale Konfrontationen einfach nicht statt, dazu ist die Kraft des Kollektivs und der Tradition zu allumfassend. Schwarze Musik ist eine harte Schule, in der Selbstausdruck Schritt für Schritt erlernt wird, durch zahllose Verfehlungen mit immer höheren Einsätzen. There ain’t no half-steppin’, wie Big Daddy Kane sagen würde. Wenn man scheiße ist, ist man scheiße, und wird es vermutlich relativ direkt zu spüren bekommen; wer den Sweet Spot jedoch trifft, wird mit dem besten Gefühl der Welt belohnt. In der Praxis Schwarzer Musik muss man sich die Freiheit verdienen. Und vor der Kür kommt die Pflicht.
Infolge der Sklaverei kam es zu einem Aufeinandertreffen von afrikanischen Musikritualen und europäischer Musiktechnologie – mit einem erstaunlichen Effekt auf Charakter und Rolle der Improvisation innerhalb der Schwarzen Musik. Man mag meinen, Schwarze Musik wäre dadurch zielstrebig ihrer Seele beraubt worden, tatsächlich ist aber das Gegenteil der Fall: Durch die neuen Möglichkeiten, die musikalischen Traditionen der eigenen Vorfahren zu bewahren, stand Schwarzen Musiker:innen in der Diaspora auch mehr Ausgangsmaterial zur Verfügung. Schwarze Musik basierte nicht von einem Moment auf den anderen auf schriftlicher Notation (und die meisten Versuche, sie schriftlich zu fixieren, haben noch heute einen gewissen “Uncanny Valley”-Effekt – ein bisschen wie eine künstliche Intelligenz, die sich nicht so wirklich menschlich anfühlt). Tatsächlich wurde die Schwarze Musik nun noch stärker nach Gehör weitergegeben. Dass Sounds akkurater aufgenommen und vervielfältigt werden konnten, hatten zur Folge, dass man mehr davon vermitteln und sich stärker darauf beziehen konnte. Schwarze Musik basierte weiterhin auf Improvisation, doch war der Improvisation nun ein breiterer Weg geebnet. Das Mehr an Traditionen verhalf Musiker:innen zu noch mehr künstlerischen Freiheiten. Die kollektive Kraft afrikanischer Musik erwies sich als mächtig genug, um Menschen global zu verbinden und zu empowern – anfangs an den verschiedenen Orten der Diaspora, dann auf der ganzen Welt.
Analog zu Technologie und Gesellschaft entwickelt sich die Schwarze Musik auch heute noch mit rasanter Geschwindigkeit. Die rapiden Entwicklungen des Jazz im frühen 20. Jahrhundert wären ohne die gleichzeitigen Fortschritte im Bereich der Aufnahmetechnologie undenkbar gewesen. Hot Five and Hot Seven recordings von Louis Armstrong, aufgenommen zwischen 1925 und 1928, war eine Revolution – nicht nur als Wendepunkt im Übergang von traditionellen New-Orleans-Jazz zur zunehmend beliebten, moderneren Form des Jazz, sondern auch hinsichtlich der Tatsache, dass das kreative Denken dahinter nun einem weltweiten Publikum zugänglich gemacht werden konnte. Dizzy Gillespie und Charlie Parker hätten in den darauffolgenden Jahrzehnten kaum den Bebop entwickeln können, wenn die Weiterentwicklungen der Musik nicht durch neue Aufnahmetechniken derart Fahrt aufgenommen hätten. Es dauerte nicht einmal ein halbes Jahrhundert, bis so unterschiedliche Genres wie Rock, R&B, Disco und Hip-Hop entstanden – Genres, die sich trotz komplett unterschiedlicher Ästhetiken nie weit von ihren gemeinsamen Wurzeln in der Schwarzen Musik entfernten. Als das Archiv schließlich in den 90ern in die Hände von Produzenten wie J Dilla oder Kanye West gelangte, wurde es noch unwahrscheinlicher – und natürlich noch verlockender –, das Handwerk jemals völlig zu beherrschen. Die Messlatte wird immer höher, und gewinnt stetig an Reiz.
Im Zuge der exponentiellen Zunahme an Möglichkeiten, Musik zu machen und zu vertreiben, wurden auch immer mehr Menschen Teil dieses improvisatorischen Netzwerks. In der Folge ist heute unmöglich bestimmbar, wo Schwarze Musik anfängt und wo sie aufhört. Die fundamentalen Elemente traditioneller afrikanischer Musik – Call & Response, Blue Notes, Polyrhythmen, Improvisation – sind heute zersplittert und omnipräsent, sie wurden zum allgegenwärtigen Soundtrack des Lebens des 21. Jahrhunderts. Ob Soundcloud-Rap aus den abgelegensten Winkeln des Hip-Hop oder bulgarischer Folk-Pop mit Four-to-the-Floor-Kicks: Genres wie diese zeigen auf, wie omnipräsent der Einfluss der einzigartig kraftvollen und ansteckenden Volksmusik Afrikas ist. Wir alle wurden davon berührt, wir alle sind Teil davon. Wir müssen einfach nur zuhören. Und anfangen zu spielen.
Improvisations-basierte Musik gibt es in dieser Spotify-Playlist: