Die Grundsteine der Black Music: Blue Notes
Dies ist der dritte Teil einer fünfteiligen Serie.
In der Musik werden, ganz wie in Romanen, Geschichten von Konflikten und deren Auflösung erzählt: Ein Thema wird eingeführt, etwas Unvorhergesehenes geschieht, die Dinge regeln sich. Das dramaturgische Mittel der Musik sind die Harmonien; die einzelne Note ist für sich genommen nur eine Frequenz, sobald aber noch weitere dazukommen, entsteht eine Geschichte. Wenn zwei Noten eine stabile Beziehung eingehen, so sind sie in unseren Ohren unmittelbar verständlich und angenehm, manche Beziehungen zwischen Noten sind da schon turbulenter: voller Verliebtheit, aber auch temperamentvoll, ambivalent, und, mal ehrlich, auch ein bisschen erotischer.
Der Kontrast zwischen beiden Arten der Ton-Beziehung – bildungssprachlich auch Intervalle genannt – bestimmt grundlegend, wie wir den harmonischen Inhalt eines Stücks oder eines Genres bewerten. Die volltönigen, aber stabilen Intervalle, auch Konsonanzen genannt, befrieden das Drama, das die gleichermaßen toxischen wie erotischen Dissonanzen verursacht haben. Zumindest in der europäischen Musiktradition wurden Harmonien durchgehend so verstanden – mit den sogenannten Blue Notes hat die schwarze Musik das Narrativ jedoch umgeschrieben. Denn für wen halten wir uns, die Beziehungen zwischen all den verminderten Sekunden, Tritoni und Septen bewerten zu wollen? Können wir nicht Stabilität UND Spaß haben?
Blue Notes sind diejenigen Töne zwischen den Noten der Standard-Tonleitern, die Schwarzer Musik ihren unverwechselbaren melodischen Charakter verleihen. Nun schließt sich natürlich die Frage an, was eigentlich den „Standard” bestimmt. Niemand wird leugnen, dass die westliche Wahrnehmung von Musikkomposition und -theorie – ob nun zu Recht oder zu Unrecht – in einer internationaler werdenden Welt den Rahmen für das Verständnis von Musik vorgibt. So wie Englisch zur „Weltsprache” wurde, avancierte das diatonische System der europäischen Harmonielehre zur „Welt-Musiktheorie”. So wie aber viele Ausdrücke aus anderen Sprachen nicht ins Englische übertragen werden können, gibt es auch viele Arten von Musik, die sich im westlichen Stimmungssystem nicht abbilden lassen, nicht als Noten niedergeschrieben werden können oder sich nicht auf westlichen Instrumenten spielen lassen. Skeptiker:innen könnten nun fragen, inwiefern der Begriff der „Blue Note” überhaupt angemessen ist. Wer entscheidet schließlich, was blue (also seltsam und abseitig) ist, und was normal? Für mich geht diese Frage jedoch am Kern vorbei. Fakt ist, in der Schwarzen Musik geht es um die „Blueness” – also jene konfrontative Fähigkeit, am Rande eines bestehenden Systems aufzublühen und nicht nur die richtigen, sondern auch die „falschen” Noten zu meistern.
Konsonanz und Dissonanz sind objektive harmonische Eigenschaften, unabhängig von ihrer kulturellen Verortung. Eine Oktave oder eine Quinte ist in jedem Teil der Welt gleichermaßen konsonant, ein Tritonus ist überall gleich dissonant. Musikkulturen definieren sich nicht darüber, dass sie harmonische Elemente unterschiedlich interpretieren würden, sondern darüber, wie diese Elemente zusammen gespielt werden. Konsonanzen verraten unserem Ohr, dass wir gerade Musik hören, und Dissonanzen halten das Ganze interessant. Jedes Musikgenre handhabt das Verhältnis zwischen beiden unterschiedlich. Konsonanzen sind das Fleisch, die Kartoffeln, das Gemüse – jeder kocht damit, für sich genommen sind sie meistens langweilig. Dissonanzen hingegen sind die Würze, die der Musik einer bestimmten Kultur ihren eigenen Geschmack verleiht, so unverwechselbar wie ihre Küche.
Blue Notes sind der Cayennepfeffer des klanglichen Soul Foods Schwarzer Musik. Sie kamen mit dem Sklavenhandel über den Atlantik, und fanden in der seltsamen neuen Welt einen völlig neuen, wenn auch vertrauten Ausdruck. Die unter Zwang umgesiedelten Afrikaner:innen und ihre Nachkommen brachten einen kulturell vererbten Hang zur Dissonanz mit. Ihre Musik stand in deutlichem Kontrast zur Musik, die von ihren westlichen Unterdrückern idealisiert wurde, und die so so weich und fließend wie nur möglich klang. Durch die Standardisierung von Stimmungen, Instrumentenbau und musikalischer Praxis hatte die europäische Musik über Jahrhunderte hinweg auf größere harmonische Homogenität hingearbeitet. Im Gegensatz dazu war afrikanische Musik in ihrem Kern heterogener, überlagerte unterschiedliche Melodien und Rhythmen und brachte Ensembles hervor, in denen keine Einzelstimme jemals unterging – darin bildet sie das klangliche Äquivalent zum Pattern Blocking. Djembes, Axastes, Gankgoi-Glocken und Balafons spielen kontrastierende Rhythmen und Figuren und reagieren mit ihren jeweiligen Beiträgen auf den Sound des Kollektivs. Spielende können das klangliche Ganze jederzeit um weitere Sounds ergänzen, indem sie mit dem Fuß aufstampfen, etwas rufen, Obertöne hinzufügen oder all das gleichzeitig tun – und hier sprechen wir noch nicht einmal vom Gesang, der über allem thront. Im reichhaltigen Gefüge dieser Klänge stören „Fehler” die Performance nicht besonders, sondern werden zu spontanen Sprungbrettern für weitere Improvisationen. Der Klang eines:einer Spielenden, der:die technisch an die eigenen Grenzen kommt, ist – so wie die dadurch entstehenden, unerwarteten Klänge – ein zentrales Element der Musikerfahrung. Im Vergleich zu Musik, bei der zwanzig Violinist:innen mit der Präzision eines schweizer Uhrwerks dieselbe Phrase spielen, mag uns das als ein gewaltiges Chaos erscheinen. Tatsächlich aber bildet die Schwarze Musik ein eigenes System mit eigenen Regeln, das auf dem Prozesshaften, sowie auf einem ständigen Geben und Nehmen zwischen Individuum und Kollektiv aufbaut.
Afrikanische Sklavinnen und Sklaven brachten das heterogene Klangideal ihrer Vorfahren mit, und man kann sich vorstellen, wie befremdlich westliche Instrumente ihnen zunächst erschienen. Der instrumentale Kosmos des Westens war bestimmt von Bachs wohltemperiertem Klavier, man feierte noch die Errungenschaft, 7-notige Tonleitern in allen 12 Tonarten spielen zu können. Sicher ist es großartig, eine E-Dur-Tonleiter konsistent spielen zu können – was aber ist mit den Noten zwischen den Noten? Die Art von Noten, die nicht unbedingt mit Absicht gespielt werden, aber ohne die die Musik das verliert, was ihren Charakter ausmacht? Auf der Gitarre können wir die Tonhöhe durch Saitenziehen variieren, auf dem Klavier oder dem Notenpapier bewegen wir uns jedoch in den Grenzen des 12-notigen, wohltemperierten Systems. Traditionelle afrikanische Musik basiert hingegen meist auf pentatonischen und hexatonischen, also fünf- oder sechstönigen Tonleitern, deren vergleichsweise große Einfachheit mehr improvisatorische Freiheiten erlaubt. Diese harmonische Flexibilität gab dem Gesang auf dem ganzen Kontinent unter dem wachsenden Einfluss des Islams den nötigen Raum, um melismatischer zu werden (also innerhalb einer Silbe von Note zu Note fließend). Die Kombination aus melismatischem Gesang und pentatonischen Tonleitern war ein früher Prototyp dessen, was zur Grundlage Schwarzer, amerikanischer Musik werden sollte: Des Blues.
Der Blues ist das bedeutendste Genre afrikanisch-amerikanischer Musik, in ihm kristallisierte sich erstmals die Ästhetik afrikanischer Sounds, die auf europäischen Instrumenten gespielt wurden. Der Begriff „Blues” wird im Kontext des Genres eher mit den Themen der Songs assoziiert („I’m feeling so blue because my baby left me”), tatsächlich könnte der Name genauso von der prominenten Rolle von Blue Notes herrühren. Wie auch schon seine afrikanischen Vorgänger basiert auch Blues auf einer pentatonischen Moll-Tonleiter, die eine verminderte Quinte enthält, auch Tritonus genannt. Es ist eine bekannte Tatsache, dass der Tritonus früher auch Diabolus in Musica (Der Teufel in der Musik) genannt wurde – wie aktiv das Intervall in der Musikgeschichte gemieden wurde, wird jedoch gern überzogen dargestellt. Tatsächlich wurde der Tritonus zwar während des 18. Jahrhunderts so genannt, ging aber nach der Renaissance in den normalen Gebrauch über – dies soll dennoch nicht die Tatsache verschleiern, dass seine besondere Bedeutung für den Blues beispiellos ist.
Die westliche Musik hat mit dem Teufel gespielt, der Blues hat ihm seine Seele verkauft. Wenig überraschend war es die Gitarre, die am ehesten mit diesem Prozess assoziiert wird: Die Bünde waren ein vergleichsweise kleines Hindernis, das überwunden werden musste, um jene flüchtigen Zwischennoten zu finden, um den Geist afrikanischen Banjospielens einzufangen und vergleichsweise melismatischen Gesang dazu zu ergänzen. Doch sogar auf Instrumente wie das Klavier übertragen, die sehr viel strikter organisiert sind, brach sich der Geist des Blues durch dieselben Blue Notes Bahn – und schuf Klänge, die sogar auf noch fremdländischeren Instrumenten beispiellos waren. Etwas an jenem wesentlich afrikanischen Faible für klangliche Kombinationen und die perfekte Imperfektion legte den Grundstein für den einzig denkbaren Soundtrack späterer afrikanisch-amerikanischer Schicksalsgeschichten – ein Soundtrack, der den musikalischen Ton für das zwanzigste Jahrhundert und darüber hinaus angab. Eine bittersüße Spannung charakterisiert den Blues und all seine musikalischen Ableger. Seine Triebkraft ist die Verbindung zu einem in immer weitere Ferne gerückten kulturellen Heimatland; gleichzeitig drückt sich in ihm das Gefühl aus, über die Welt erhaben zu sein – sogar vom Rand der Gesellschaft aus.
Blue Notes kommen im ganzen Spektrum Schwarzer Musik vor. Diese Playlist enthält einige Beispiele:
Text: Adam Longman Parker
Bald erscheint „Die Grundlagen der Black Music: Polyrhythmen”, der nächste Teil der Essayreihe von Afriqua.
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