Afriqua: Die Grundsteine der Black Music
In meiner Vorstellung gibt es viele Orte, die mich zu einem Nachdenken über die Idee einer „Black Music” hätten bewegen können. Die Berliner U-Bahn ist keiner davon. Und doch stand ich hier, in dem Land, das die europäische Klassik-Tradition wie kein anderes prägte, Geburtsort der „Drei B” – und ein komplett anderes „B” begann mein Denken über die Musiktradition zu verändern, mit der ich selbst aufgewachsen war.
Ein Schild, ausgerechnet am Richard-Wagner-Platz, bewarb ein Event für Funk, Soul und Disco. Ich, ein Schwarzer Mann in einer europäischen Stadt, hatte den Ausdruck nie in gedruckter Form gesehen, und ich muss gestehen: ich war davon überrascht, sogar ein bisschen – ich wage es zu sagen – getriggert, auf dem Plakat den Ausdruck „Black Musik” zu lesen. Funk, Soul und Disco sind schließlich komplett unterschiedliche Genres, mit einer jeweils eigenen Geschichte, eigenen Fans und eigenen Ikonen. Und klar: Wir wissen alle, woher und von wem die Genres stammen. Den Begriff „Schwarz”, der in meinem Heimatland per definitionem politisch geprägt ist, einfach für die Beschreibung einer so großen Spannweite an Musik zu benutzen, erschien mir jedoch unangemessen und verkürzt.
Bald fing ich jedoch an, anders darüber zu denken. Wer in der Schwarzen Community aufwächst, kennt das endlose Sprechen darüber, wie unsere Kultur ausgebeutet, weißgewaschen oder angeeignet wird – es gibt viele Bezeichnungen für das Phänomen, dass eine in der Not entstandene Kultur ihrer Authentizität beraubt und an ein breites Publikum verkauft wird. Ich weiß gar nicht mehr, wie oft ich schon gehört habe, „Elvis war ein Dieb”. Ich hatte immer etwas für die Stimmung und den Humor in derartigen Aussagen übrig, die stets ein bisschen nach betrunkenem Onkel klangen; der Gedanke dahinter stieß mir aber auch auf. Natürlich hatte Elvis sich von schwarzen Musikerinnen und Musikern inspirieren lassen, die ihm vorausgegangen waren – aber machte ihn das mehr zu einem Dieb, als dass es mich zu einem machte, als Schwarzer die Arbeiten von Beethoven zu studieren? War er mehr ein Dieb als der weiße DJ, der am nächsten Abend für Deutsche mittleren Alters in Charlottenburg Kool & the Gang auflegen würde?
Die Vorstellung einer „Black Music” begann, Sinn zu ergeben. Es ging darin nicht um Besitzansprüche, sondern um Anerkennung. Das Problem an Elvis war schließlich nicht, dass er sich von schwarzen Musikerinnen und Musikern inspirieren ließ; das Problem war, dass das rassistische System seiner Zeit es unmöglich machte, den aufkeimenden Einfluss des Schwarzen Amerikas anzuerkennen. In den 1950ern mussten Elvis und Buddy Holly einfach zu den Erfindern des Rock’n’Roll erklärt werden, ob ihnen das nun gefiel oder nicht. Heute leben wir in anderen Zeiten, sind viele Schritte weiter, haben Geschichten neu geschrieben – und es muss auch etwas Gutes haben, dass „Black Music” in einer der weißesten Hauptstädte Europas ohne große Umstände gehört und gefeiert wird.
Die Plakatwerbung hatte offensichtlich Eindruck auf mich hinterlassen. Doch obwohl sie so vieles anstieß – Stunden der Lektüre, ein Album, und nun eine Essay-Serie –, muss ich gestehen: Am Ende war ich gar nicht auf der Party. Dennoch, je mehr ich über die Vorstellung einer „Black Music” nachdachte, desto mehr kam ich zu dem Schluss, dass das Programm der Veranstaltung einfach nicht weit genug ging: Wenn es dabei wirklich um Schwarze Musik ging, hätte man schließlich nicht nur Funk, Soul und Disco gespielt, sondern auch ein bisschen Jazz und Blues, Gospel, ein bisschen Rock, und – der Vollständigkeit halber – ein wenig Reggae. Ein bisschen Cumbia, Merengue, Salsa und Samba hätten auch noch ganz gut reingepasst, und bestimmt hätte es der Stimmung nicht geschadet, noch ein bisschen Afrobeat, Highlife, Soca und Calypso einzustreuen, bevor man dem Club dann so richtig eingeheizt hätte, zum Beispiel mit einer Prise Hip-Hop, House, Techno, Jungle, und so weiter und so fort. Andersherum könnten die hippsten Berliner Clubs auch einfach die nervtötenden Debatten darüber einstellen, auf welchem Floor jetzt an irgendeinem Abend eher House oder eher Techno gespielt wird – der Narzissmus der kleinen Unterschiede –, und ihre Clubs einfach als das benennen, was sie sind: Orte Schwarzer Musik. Die Schwarzen Einflüsse auf die Musik der Gegenwart aufzurollen, ist ein Fass ohne Boden.
Alles begann in Afrika… Derart verallgemeinernd über den zweitgrößten und bevölkerungsreichsten Kontinent der Welt zu sprechen, gilt zu Recht als Fauxpas. Über den Kontinent hinweg existieren mehr als 3000 unterschiedlichen kulturelle Gruppierungen und Praktiken; all das vereinheitlichend als „Afrikanische Kultur” zu bezeichnen, erscheint mir noch verkürzter, als die Spannbreite der dort entstandenen musikalischen Entwicklungen einfach auf einen Begriff einzudampfen. Trotz der unbegreiflichen Vielfalt innerhalb des afrikanischen Kontinents gibt es jedoch Ähnlichkeiten, die die Myriade der Rituale, Religionen und Ideenwelten überspannen, und die das Mosaik afrikanischer Kultur – und damit der Musik – ausmachen. Die rhythmische Komplexität, die Percussion, die Rufe und Schreie sowie die gemeinschaftliche Art des Auftretens, die uns zur Musik Afrikas in den Sinn kommen, prägen tatsächlich fast jeden Musikstil, der innerhalb des Kontinents Verbreitung findet. Sie passen zu den einzigartigen Aspekten afrikanischer spiritueller Praxen, etwa zur schwächeren Trennung zwischen spirituellem und weltlichem Leben, oder zur partizipatorischen, gemeinschaftlicheren Form des Gottesdienstes.
Dass afrikanische Menschen im Zuge des Sklavenhandels in die Neue Welt gebracht wurden, war der Urknall der modernen Musik. Die Tragödie der Sklaverei entriss Millionen von Afrikanerinnen und Afrikanern über vier Jahrhunderte hinweg ihre Heimat. Diejenigen, die die Reise über den Atlantik überlebten, brachten die eigenen kulturellen Sinne und eine kulturelle Identität mit; nachdem man sie in die Neue Welt transplantiert hatte, nahmen sie für alle Zeiten Einfluss auf deren durchmischte Kultur. Musik, die transportabelste Form der Kultur, war vielen Afrikanerinnen und Afrikanern ein Mittel, auch in der Fremde afrikanische Identität, Spiritualität und Rituale zu leben und zu pflegen. Selbst durch völlig neue Sprachen, Religionen und Umgebungen gefiltert, waren die jahrtausendealten musikalischen Praxen Afrikas noch einzigartig genug, um von versklavten Afrikanerinnen und Afrikanern erhalten zu werden, als trotzige Verbindung in die Länder ihrer Heimat.
Die Arten und Weisen, auf die Afrikanerinnen und Afrikaner mit neuen Umgebungen umgingen, wurden zum Ursprung von Musikgenres, die so neu waren wie jene Umstände selbst. Und wie auch die vielen unterschiedlichen Kulturen Afrikas durch gemeinsame Eigenschaften untereinander verbunden waren, waren es auch die in der Diaspora entstandenen musikalischen Kulturen. Die Mosaik-Qualität afrikanischer Kultur wiederholte sich im globalen Maßstab. Schwarze Musik war geboren.
Die Schwarze Musik mag sich weit von ihren ursprünglichen afrikanischen Wurzeln wegentwickelt haben, bestimmte musikalische Techniken haben sich jedoch entlang ihres langen Weges bewahrt – und hier nimmt meine Studie über die Prinzipien Schwarzer Musik ihren Ausgang. Wer sich den musikalischen Werkzeugen widmet, die sich über allen Zweige des Baumes Schwarzer Musik hinweg wiederfinden – etwa Call & Response, Blue Notes, Polyrhythmen und Improvisation –, der gewinnt ein tiefgehendes Verständnis moderner Musik, und damit der modernen Welt. Man wird verstehen, wieso Motown und Techno nicht aus Zufall aus ein- und derselben Stadt und von denselben Menschen stammen, sondern darin vielmehr ein Thema variiert wird. Die zahlreichen Genres zu verstehen, die von Schwarzen Menschen als Schwarze Musik entwickelt wurden, heißt nicht, irgendjemandem wäre verboten, sie zu hören oder selbst zu spielen. Das Gegenteil ist der Fall. Es ist vielmehr ein Weg, die Musik, die man schätzt, als Ausgangspunkt für die Beschäftigung mit einer jahrtausendealten Tradition zu begreifen, deren Entwicklungen die musikalischen Landschaften heute wie damals entscheidend prägen.
Text : Adam Longman Parker
In Kürze erscheint „Die Grundsteine der Black Music: Call & Response”, der nächste Teil der Essayreihe
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